Reisen in die Vergangenheit haben Konjunktur, ob man dabei nun an Animationen, Historienfilme oder künstlerische Werke denkt. Heute wird diese Anerkennung zusehends auch Musikern und Wissenschaftlern zuteil, die sich früheren Epochen zuwenden und den originalen Klängen der Renaissance, des Barock oder der Klassik nachforschen. Doch zunächst musste sich die historische Aufführungspraxis gegenüber zahlreichen Kritikern behaupten.
“Süße Schärfe”: Die Barockgeige
Nicht selten wurden sie als Nostalgiker bezeichnet, an denen der Fortschritt vorbeigegangen zu sein schien und die nicht begreifen wollten, dass neue, klüger konzipierte Instrumente und zeitgemäßere Interpretationen auch zu vermeintlich besseren Ergebnissen führen. Die Geige gilt hierbei als anschauliches Beispiel: Sie erfuhr im 19. Jahrhundert bedeutende Veränderungen in ihrer Bauweise. Durch die höhere Saitenspannung und den gestreckt-konkaven Bogen galt das neue Modell als durchdringender im Klang und damit besser geeignet für größere Konzertsäle.
Warum also auf das leisere, womöglich schlaffer klingende Instrument der davorliegenden Jahrhunderte zurückgreifen? Auf den ersten Blick sprach nichts dafür. Die Avantgarde der historischen Aufführungspraxis ließ sich indes nicht von ihrem Weg abbringen. Nicht jede Modifikation eines Instruments musste zugleich auch als alleingültige Verbesserung aufgefasst werden. War der Klang der modernen Geige nicht wesentlich härter? Die Barockgeige mochte zwar zurückhaltender sein. Dafür besaß sie aber eine “süße Schärfe” von unvergleichlichem Charme.
Sinnliche Fülle und feine Differenzen: Giuliano Carmignola
Was jedoch ist gemeint mit der Bezeichnung “süße Schärfe”? Lieblich tönend und zugleich deutlich konturiert? Nikolaus Harnoncourt wählte diese Formulierung, die übrigens nicht nur das Instrument glänzend charakterisiert, sondern auch die Spielweise des italienischen Meistergeigers Giuliano Carmignola, der sich wie kaum ein anderer Solist um die öffentliche Aufwertung der Barockgeige verdient gemacht hat.
Dabei bewährt sich, wie sein neues Album eindrucksvoll belegt, die “süße Schärfe” seiner Spielkultur in besonderer Weise bei Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo. Giuliano Carmignola vollbringt das Wunder eines überaus sanft fließenden Legatos, das die scharf gezogenen Linien von Bachs Harmonien nie verschwimmen lässt. Die sinnliche Klangfülle und die Farbenpracht seines Spiels sind hinreißend.
Man erlebt Bachs Modernität, den unglaublichen Einfallsreichtum seiner legendären Arbeiten für Geige solo in einem vollkommen neuen, lyrischen Licht. Der weiche Ton wird dabei entscheidend von dem Instrument mitgeprägt, einer Pietro Guarneri, die 1733 in Venedig gefertigt wurde. Carmignola streicht sie mit einem Bogen, den Emilio Slaviero, ausgehend von einem Modell des 18. Jahrhunderts, im Jahre 2007 hergestellt hat.
Kaum jemand wagt heute noch, ein Aufnahmeprojekt wie das von Giuliano Carmignola als altmodisch oder nostalgisch zu bezeichnen. Im Gegenteil: Carmignola zählt zur Avantgarde. Mit seiner Einfühlung ins barocke Klangempfinden zeugt er von der unverminderten Aktualität und Lebendigkeit Johann Sebastian Bachs. Im Jahr 333 nach Bachs Geburtstag genau das richtige Zeichen.