Am 19. Februar feierte der Komponist György Kurtág seinen 80. Geburtstag. Ihm zu Ehren veranstaltete das Budapest Music Center ein mehrtägiges Festival in der ungarischen Hauptstadt. Zu den Höhepunkten der Veranstaltung gehörte ein Konzert des Geigers András Keller mit der Sopranistin Juliane Banse. Sie widmeten sich den “Kafka-Fragmenten, op. 24” und präsentierten damit gleichzeitig die Neueinspielung des Werkes für die ECM New Series der Öffentlichkeit.
Franz Kafka war sich seiner selbst nicht sicher. Deshalb schrieb er nicht nur Erzählungen, Romane, sondern notierte auch viele seiner Regungen und Beobachtungen für sich privat und für einige enge Freunde. Er zweifelte, verzweifelte an sich selbst und der Welt, an der eigenen Unfähigkeit, sich fest zu binden, an der dichterischen und sozialen Kompetenz, nicht zuletzt auch an seiner Nachgiebigkeit den Ansprüchen seiner Umwelt gegenüber. Prompt und im Krankheitsbild passend starb er an der Schwindsucht, obschon eine Infektionskrankheit, so doch eine, die eine Art der Selbstauflösung der Person darstellte. Seinen Freund Max Brod wies Kafka an, alle Aufzeichnungen aus seiner Feder zu vernichten, was dieser aber nicht übers Herz brachte. Im Gegenteil, er stellte unter dem Titel “Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande” sogar kurze und private Texte unter anderem aus Tagebüchern und Briefen zusammen, die vom Autor nie für die Veröffentlichung freigegeben worden wären. Die literarische, stellenweise journalistische Qualität dieser Skizzen jedoch gab ihm Recht. Sie sind Schlaglichter der psychologisierenden Moderne von einer stellenweise erschreckenden poetischen Präzision, die tiefe Spuren in Menschen hinterlassen können, die einmal mit ihnen in Berührung gekommen sind. György Kurtág, selbst zwei Jahre nach Kafkas Tod im heute rumänischen Lugoj geboren, kam zum ersten Mal über seinen Komponistenkollegen György Ligeti mit Werken von Franz Kafka in Kontakt, zunächst ohne große Folgen. Schließlich war es jedoch die Erzählung “Die Verwandlung”, die in den späten Fünfzigern neues Interesse aufkeimen ließ und in Kurtág eine Faszination entfachte, die seitdem nicht nachgelassen hat.
So machte er sich immer wieder Notizen zu einzelnen literarischen Motiven, die er für komponierbar hielt. Mitte der Achtziger dann verdichteten die Ideen sich derart, dass Kurtág sie für Violine und Sopranstimmen auszuarbeiten begann. Denn die Anziehungskraft dieser Aphorismen und teilweise nur hingeworfenen Beobachtungen war für den Komponisten enorm: “Ihre Welt aus knappen Sprachformeln, erfüllt von Trauer, Verzweiflung und Humor, Hintersinn und so vielem zugleich ließ mich für anderthalb Jahre nicht mehr los”, erinnert sich Kurtág an den Schaffensprozess. So entstand aus einer Vielzahl einzelner Impulse heraus sein fünfter Vokalzyklus, die “Kafka-Fragmente, op. 24”, die András Keller gemeinsam mit Adrienne Csengery 1987 bei den Tagen für neue Kammermusik in Witten uraufführte. Die vierzigteilige Komposition wurde seitdem behutsam überarbeitet und so machte es Sinn, sie noch einmal unter möglichst idealen Bedingungen auf CD festzuhalten.
Die Aufnahmen entstanden im September 2005 im Reitstadel Neumarkt unter der Leitung des Komponisten und garantieren auf diese Weise ein Höchstmaß an interpretatorischer Authentizität. Denn Kurtág gehört zu den in besonderem Maße kritischen Persönlichkeiten der zeitgenössischen Musik, die keine Unsauberkeiten – und seien sie noch so beiläufig – durchgehen lässt. Schon deshalb reiht sich die anlässlich seines 80. Geburtstages veröffentlichte Einspielung der “Kafka-Fragmente” auf höchstem Niveau in die Serie der Werke ein, die seit dem Anfang der Zusammenarbeit mit “Hommage à R. Sch.” (1995) mit ECM New Series das Oeuvre des anspruchsvollen Meisters begleiten und dokumentieren.