György Kurtág gehört zu den bedeutendsten Gestalten der musikalischen Avantgarde. Der ungarisch-französische Komponist hat eine ureigene Tonsprache geschaffen, als deren Hauptkennzeichen ein Höchstmaß an Konzentration, lyrische Intensität und strukturelle Klarheit gelten. Neben der Akribie, dem hohen Qualitätsanspruch und der schöpferischen Kraft des Komponisten besteht eines seiner wichtigsten Erfolgsrezepte darin, seinen persönlichen Erfahrungsreichtum in seine Kunst einzubringen.
Höhen und Tiefen des 20. Jahrhunderts: György Kurtág
Der hochbetagte Komponist hat viele Höhen und Tiefen des 20. Jahrhunderts durchlebt. Als eines seiner Schlüsselerlebnisse beschreibt er den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Ungarn im Jahre 1956. Damals ist er dreißig Jahre alt, als eine ganze Welt für ihn zusammenbricht. 1957 geht er nach Paris, vertieft seine musikalischen Kenntnisse bei Olivier Messiaen und befasst sich mit Arnold Schönberg und Anton Webern. Doch so bereichernd die Erfahrung mit der westlichen Avantgarde ist: Innerlich ist er von tiefen Krisen geschüttelt.
Das “Endgame” als Oper – oder: Die Abgründe besingen
In jener Zeit sieht er Samuel Becketts Theaterstück “Fin de partie”. Das Drama handelt von vier Charakteren, die sich in einer verfahrenen Situation befinden. Sie sind in einem leeren Raum gefangen und hängen in psychologisch fataler Weise voneinander ab. Befehlsgewalt und Unterordnung, familialer Druck, Krankheit, Schmerz, dazu eine offenbar unwirtliche Außenwelt, in die man nur durch zwei kleine Fenster im Hintergrund blicken kann – das Stück dringt tief in die Abgründe der menschlichen Lage ein.
György Kurtág ist gefesselt von dem Drama. Wahrscheinlich trifft es seine damalige Stimmung, die von einem grundstürzenden Vertrauensverlust in das Leben geprägt ist. Jedenfalls lässt ihn Beckett nicht mehr los. Er wird dem Werk des irischen Schriftstellers kleinere Arbeiten widmen. Im Hintergrund wartet jedoch das Endspiel auf seine musikalische Chance. In den letzten sieben Jahren hat der 92-Jährige, dessen Werk in zahlreichen Schlüsselaufnahmen beim Münchener Label ECM New Series vorliegt, nun an seinem “Endgame” gearbeitet.
Am heutigen Abend wird die vom Publikum bereits heiß ersehnte Oper, mit deren höchst unterschiedlichen Charakteren György Kurtág sich persönlich identifizieren kann, an der Mailänder Scala uraufgeführt.