György Kurtág passt ideal ins Konzept von ECM New Series: 1926 geboren, steht er abseits von “Schulen”, sucht sich unabhängig seine Töne und fügt sie neu zusammen zu Gebilden äußerster Konzentration, Minimalisierung und – leuchtender Schönheit. Das Schlüsselerlebnis eines Parisaufenthalts 1957/58, heraus aus der künstlerischen Isolation, aber wieder zurück in die vertraute Heimat, machte ihn zum Entdecker und Spurensucher im eigenen Auftrag. Er war kein Unbekannter mehr, als er Jahrzehnte später als Pianist zusammen mit seiner Frau Márta eine Auswahl aus seinem work in progress “Játékok” aufnahm. “Spiele” heißt der ungarische Titel der Sammlung, und wie Jahresringe legen sich seit 1973 immer neue Klavier-Spiele um die Anfangsidee.
Spiele für Kinder, die Finger, Hände und Arme auf den Tasten erkunden können; Spiele mit Melodien, mit Tonleitern, Akkorden, Arpeggien; Spiele mit dem Pedal, das fantastische Klangwolken zu erzeugen vermag; Sphärenmusik, bis ein einzelner Ton, ein hart angeschlagener Akkord langsam ausschwingt. Spiele, deren technische Schwierigkeiten fortschreiten bis zu äußerster rhythmischer Vertracktheit, ähnlich dem “Mikrokosmos” seines Landsmannes Béla Bartók, auch in den wahrnehmbaren Elementen ungarischer Volksmusik. “Játékok” enthält “Hommages” an Strawinsky, Scarlatti, an Zeitgenossen, aber zu hören ist immer Kurtág; Musik, die einem Destillat von atemberaubender Reinheit gleichkommt. Nichts könnte solche Reinheit besser ausdrücken, als in dieser Aufnahme die Konfrontation seiner “Spiele” mit Orgelwerken von Johann Sebastian Bach und auch einem Kantatensatz, die er mit hohem Klangsinn für Klavier zu vier Händen transkribiert hat.
Es ist ein aufregender Augenblick, wenn auf die ersten sieben stillen Kurtág-Töne, die nach weniger als einer halben Minute im Tiefen ausschweben, die Melodie “Aus tiefer Not” folgt. Einstimmig, dann immer dichter, doch von großer Klarheit im kontrapunktischen Geflecht, entwickelt sich Bachs Orgelchoral bis zu komplexer Sechsstimmigkeit. Nicht anders, wenn nach Kurtág wieder Bach und weiter Kurtág erklingt. Es ist, durch mehr als 200 Jahre getrennt, Musik aus demselben Urgrund. “Blumen die Menschen, nur Blumen (? sich umschlingende Töne)” nennt Kurtág dieses Eröffnungsstück. Es gibt “Knoten”, ein “Spiel mit Obertönen”, ein “Perpetuum mobile (objet trouvé)”, “Zorniger Choral”, “Glockenblume” oder “Hampeln – Strampeln”. Titel, die auf Strukturen verweisen, viele sind spielerisch, aber anders als in dem warnenden Erwachsenenspruch “Pass auf, sonst wird aus Spiel noch Ernst” steckt hier der Ernst schon im Spiel.
Beides ist nicht voneinander zu trennen, die Freude am Spiel nicht getrübt, der Ernst gut dialektisch “aufgehoben”. In der Kürze von vielen der Kurtágschen Stücke, schreibt der Musikwissenschaftler Hartmut Lück, gehe es “nicht um den kühl konstruierten Aperçu, sondern um lebensvolle, ja lebenssüchtige Zartheit, ein subkutanes Glühen, in welchem sich die individuelle Entäußerung gegen die lautstarken ‚Sachzwänge’ und gegen das herausposaunte Affirmative zur Wehr setzt, Hoffnungen und auch Verzweiflung artikuliert”.
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