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Lieder ohne Worte – Heinz Holliger mit französischem Oboen-Repertoire des 20. Jahrhunderts

Heinz Holliger
Mirjam Bollag Dondi
21.09.2023
Heinz Holliger schätzt das Verborgene. Der Schweizer Komponist und Oboist kratzt nicht gerne an Oberflächen, sondern sucht den existenziellen Tiefgang, die Poesie der Zwischentöne. Dabei scheut er nicht davor zurück, in Abgründe der menschlichen Seele zu blicken und seinen psychologischen Eindrücken musikalisch schonungslos Ausdruck zu verleihen. Zuletzt ist ihm dies in seiner Oper “Lunea”, die sich dem Leben und Dichten des österreichischen Spätromantikers Nikolaus Lenau widmete, mit einer tiefe Schichten der Psyche berührenden Komposition gelungen. 
Im Vorjahr erschien in der New Series von ECM eine vielbeachtete Aufnahme seines jüngsten Opern-Projekts. Jetzt ist der hochproduktive Musiker, der zu den bedeutendsten Komponisten der Gegenwart zählt, wieder als Solist zu erleben. An der Seite des österreichischen Pianisten Anton Kernjak präsentiert er auf seinem neuen ECM-Album französische Literatur für Oboe und Klavier.
Die Oboe und die menschliche Stimme
Das Repertoire bewegt sich vorrangig in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und umfasst Werke von Ravel, Debussy, Milhaud, Saint-Saëns, Casadesus, Koechlin, Jolivet und Messiaen. Eine in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen enorme Spannbreite, die sich von spätromantischen Konzepten über impressionistische Neuerungen bis hin zu atonalen sowie nicht zuordenbaren Formen der musikalischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts erstreckt. 
Holliger ließ sich bei seiner Auswahl von der Sammlung “Répertoire moderne de vocalises-études” inspirieren, einer das gesangliche Moment betonenden Zusammenstellung bedeutender Werke französischer Komponisten, “im wahrsten Sinne ‘Lieder ohne Worte’”, wie Holliger es im Booklet ausdrückt. Dazu passt die Oboe, deren Expressivität Holliger nah bei der menschlichen Stimme ansiedelt. Dabei erschöpft sich die Imagination der Stimme nicht in der gesanglichen Komponente der Musik.
Poetische Monologe
Wie André Jolivets Stück “Controversia” zeigt, kann die Stimme auch bedeuten: Deklamation, Rhetorik, Ausdruck unterschiedlicher Gefühle, die sich nicht per se dem Prinzip des schönen Gesangs fügen. Jolivet schuf das Werk für Harfe und Oboe 1968 für Heinz und Ursula Holliger. Auf seinem neuen Album trägt der Oboist es an der Seite der französischen Harfenistin Alice Belugou vor: ein ungemein lebendiger, überraschender, auch heftig gespannter Dialog. 
Als Highlight des Albums kann die wie ein zarter Hauch daherkommende Vocalise-Étude (1935) von Olivier Messiaen gelten. Holliger trug sie dem Komponisten einmal selbst vor. Messiaen sei so begeistert gewesen, dass er das von ihm fast vergessene Werk in seine letzte Komposition (“Concert à quatre”) einbrachte. Das Stück ist von einer idyllischen Atmosphäre, die sich jedoch mit Fragen konfrontiert sieht, beherrscht. Kernjak hält die komplexen Harmonien in der Klavierbegleitung nicht unnötig zurück, was dem Werk zusätzlich Farbe verleiht. 
Lyrischen Charakter haben die Sonaten von Saint-Saëns und Casadesus. Sie changieren, jeweils individuell ausgearbeitet, in ureigenen Klangsprachen, zwischen träumerischer Poesie und tänzerischen Einlagen. An beidem hat Holliger seine Freude, wie er sich auch mit spürbarer Hingabe dem Farbenreichtum und den eigenwilligen Monologen in den Stücken von Ravel und Debussy widmet.

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