Mit Pérotin betritt Ende des 12. Jahrhunderts ein Komponist neuen Typs die Bühne. Spezifikum der zweistimmigen Musik seines Lehrers Léonin ist es, dass sie erst eigentlich in ihrer Darbietung vollendet wird, durch die improvisierten Verzierungen eines Sängers über einer Choralmelodie, die von einem zweiten Sänger vorgetragen wird. Pérotin arbeitet seine Musik dagegen bereits im Vollzug des Aufschreibens vollständig aus. Mithilfe der neuartigen Modalnotation kann er bis zu vier Stimmen in ihrem individuellen rhythmischen Verlauf schriftlich fixieren und in zuvor unvorstellbarer Komplexität aufeinander beziehen.
Diese Frühform eines in sich abgeschlossenen Kompositionsprozesses repräsentieren Pérotins geistliche Meisterwerke “Viderunt omnes” und “Sederunt principes”, entstanden in den Jahren 1198 und 1199 für das Weihnachtsfest bzw. zum Fest des hl. Stephan. Beide Werke faszinieren durch eine Dramaturgie, in der sich Unisono-Gesang im überlieferten Stil der Gregorianik und die mehrstimmigen Explorationen Pérotins und ihre seinerzeit unerhörten Klangwirkungen schroff gegenüberstehen.
In den mehrstimmigen Passagen des “Viderunt” und des “Sederunt” bildet jeweils eine bekannte Choralmelodie das Fundament. Allerdings ist diese in einzelne Wortsilben zerlegt, die sich als Haltetöne über viele Takte ausdehnen – der Choral zieht gleichsam in Superzeitlupe am Ohr des Hörers vorüber (“Vi — i — de — runt Om — nes”). Darüber entfalten drei Stimmen ein filigranes Klangornament. Ausgangspunkt und Abschluss der Stimmbewegungen ist ein konsonanter Zusammenklang. Für die aufregende Vielfalt von Akkorden und harmonischen Wendungen, die auf der dazwischenliegenden Distanz entsteht, gibt es (noch) keine Regeln. Sie resultiert aus dem rhythmischen Verlauf der Einzelstimmen.
Johannes von Salisbury, Bischof von Chartres und Zeitgenosse Pérotins, schrieb über die Darbietung dieser Musik: “Wird es mit ihr zu weit getrieben, ist diese Musik eher geeignet, Wolllust zu erregen, denn Hingabe; doch wird sie in den Grenzen der Mäßigung dargeboten, vertreibt sie den Kummer der Seele und die Sorgen des Lebens, überträgt Freude und Frieden und Jubilieren in Gott und erhebt die Seele in die Gesellschaft von Engeln.”
The Hilliard Ensemble veröffentlichte sein Album “Pérotin” 1989 bei ECM New Series. Es beinhaltet neun meisterliche Kompositionen aus der sogenannten Schule von Notre-Dame. Sechs von ihnen werden Pérotin zugeschrieben, darunter “Viderunt omnes”, “Sederunt principes”, “Alleluia: Posui adiutorium” und “Beata viscera”. Die drei übrigen Werken stammen von unbekannten Komponisten. Dieses Album bildet einen Meilenstein nicht nur in der Diskografie des Hilliard Ensembles, sondern unter den Aufnahmen Alter Musik überhaupt.
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