Die Geschichte ist eigentlich zu schön, um wahr zu sein. Da finden sich im Jahre 1974 vier junge Männer zusammen, gründen ein Vokalensemble für Alte Musik und werden damit weltberühmt. Wenn es einen Beweis dafür gibt, dass man seinem Stern folge sollte, dann wohl die Geschichte des
Hilliard Ensembles. Vier Jahrzehnte
Zwar änderte sich die Zusammensetzung des Gesangsquartetts im Laufe der Jahre, so dass heute nurmehr Countertenor David James aus der Anfangsbesetzung mit dabei ist. Aber die Transformation ging behutsam vonstatten. Der Geist des Ensembles blieb erhalten, und deshalb kann man mit Fug und Recht von einer Ära sprechen. Was die Sänger der aktuellen Formation mit allen Vorgängern eint, ist die Liebe zur englischen Musik des 15. Jahrhunderts. Das schloss, wie man weiß, die Interpretation zeitgenössischer Musik nicht aus. Die Arvo Pärt-Aufnahmen des Ensembles etwa genießen Kultstatus. Aber der ursprüngliche Gründungsimpuls des Ensembles war die Alte Musik.
Ferne Klänge
“Wir haben als Jungs und Erwachsene alle die Musikerziehung der Kathedralen durchlaufen”, bekennt Tenor Steven Harrold, jüngstes Mitglied des Ensembles. Und was die Chorknaben da in der Kirche singen, ist eine Musik, die von sehr weit her kommt. Ein Nachhall aus fernen Zeiten. Aber so alt diese Musik auch ist, sie lebt. Sie erfüllt den Kirchraum mit zauberischer Macht und zieht die jungen Seelen magisch in Bann. Davon kommt man nicht mehr los. Das ist so schön, so tröstlich, darin fühlt man sich so geborgen, dass man immer wieder dahin zurückmöchte. Und so geht es auch dem Publikum, wenn es einmal vom Hilliard Ensemble erfasst wurde. Es kann nicht mehr aufhören, dieser Musik zu lauschen. Es ist wie eine Sucht, von der inzwischen ein Millionenpublikum ergriffen ist.
Das Abschiedsgeschenk
Umso schmerzlicher ist es, dass sich die Zeit des Ensembles jetzt dem Ende neigt. Das Hilliard Ensemble löst sich auf. Im Augenblick läuft die
Abschiedstournee. Am 20. Dezember findet in der Wigmore Hall in London
das letzte Konzert statt. Aber das Hilliard Ensemble wäre nicht das Hilliard Ensemble, wenn es sich nicht mit einem außergewöhnlichen Geschenk von seinem Publikum verabschiedete. Und so haben die vier Sänger aus England soeben ein famoses Album veröffentlicht, auf dem sie ihre
persönliche Lieblingsmusik aus der Zeit der englischen Renaissancekultur zum Besten geben. Viele dieser zwei-, drei- und vierstimmigen Werke von
John Plummer, Walter Lambe, William Cornysh, Sheryngham und
anonymen Komponisten des 15. Jahrhunderts haben sie schon in Konzerten gesungen und damit ihr Publikum immer wieder in atemlose Stille versetzt. Aber bislang gab es diese Musik noch nicht in Form einer Aufnahme vom Label
ECM New Series mit allen bekannten Vorzügen des Klangs und der Gesamtgestaltung.
Unendlich tröstlich
Was auf diesem Album zu hören ist, klingt so essentiell, geht so tief in die Seele, dass man nach dem Hören wie verwandelt ist. Man fühlt sich getröstet, wenn man diese Musik hört, ist erfüllt und beglückt. Das Album beginnt mit “Thomas gemma Cantuariae / Thomas cesus in Doveria” (anonym) durchaus schwungvoll. Es folgen viele besinnliche Gesänge, bei denen man immer wieder nur staunen kann, wie rein die Stimme von Countertenor David James klingt. Darunter liegt ein polyphoner Gesangsteppich, der durch seine perfekte Abgestimmtheit und konzentrierte Ruhe überzeugt.
Die Gesamtstimmung des Albums mit dem vielsagenden Titel “Transeamus”, was so viel bedeutet wie “hinübergehen”, ist friedlich, abendlich. Es ist ein sanfter Abschied, fließend und ruhig, und doch bleibt die Musik immer gespannt und wird nie langweilig. Das ist die Magie des Hilliard Ensembles und wohl auch die Magie des Zeitalters, aus dem diese Musik stammt. Mit dem enorm intensiven, wehmütigen “Ah, gentle Jesu” (Sheryngham) klingt das Album aus. Als Trost bleibt dann nurmehr, dass man es ja wieder von vorne hören kann.