Erst im Alter von 14 Jahren entdeckte er das Klavier für sich. Aber es dauerte nicht lange, bis er spürte, wie sehr ihm das Instrument liegt. Nur wenige Jahre, nachdem er mit dem Klavierspiel begonnen hatte, trat er bereits in Paris auf. Das war am Théâtre des Champs-Elysées, und der 17-Jährige spielte unter Begleitung des Orchestre National de France das Klavierkonzert Nr. 3 von Sergej Prokofjew, eines der schwersten Werke der Klavierliteratur. Die Kritik war begeistert. Der begnadete Österreicher wurde gefeiert wie ein junger Gott.
Denkwürdiger Auftritt
Seitdem sind ein paar Jahre ins Land gezogen, und Ingolf Wunder machte in der Zwischenzeit abermals von sich reden: 2010 gewann er beim Chopin-Wettbewerb in Warschau den zweiten Preis. Sein Auftritt in Warschau war furios. Mit seiner Interpretation von Chopins Klavierkonzert in e-Moll stellte Wunder eindrucksvoll unter Beweis, dass er einen privilegierten Zugang zum romantischen Repertoire hat. Er liebkoste das Klavier regelrecht, griff aber auch kräftig zu, und entlockte dem Instrument so bedrückend schöne, sehnsüchtige Töne. Seit 2011 steht er als Exklusivkünstler bei der Deutschen Grammophon unter Vertrag, und er hat sein Spiel in den letzten Jahren Schritt für Schritt vervollkommnet.
Poetische Reifung
Ingolf Wunder lobt, dass sein Stammlabel keinen Druck auf ihn ausübt. Er schätzt es, konzentriert zu arbeiten und sich Zeit zu nehmen. Dies schließt für ihn ein, sich auch außermusikalischen Dingen zu widmen, die Sinne zu schärfen und den Geist zu schulen. Während der Aufnahmen in St. Petersburg, die jetzt auf dem neuen Album zu hören sind, gönnte er sich neben dem Fotoshooting und den Presseterminen auch Zeit für sich selbst. Er schlenderte durch die prächtige Stadt und ließ sich von ihrer glänzenden Architektur begeistern. Dabei dachte er daran, dass auch Tschaikowski diese Luft schon geatmet hatte, und das motivierte ihn zusätzlich, das kulturelle Klima dieser Stadt in sich aufzunehmen. Diese Fähigkeit zur Hingabe an außermusikalische Dinge wirkt sich auch auf sein Klavierspiel aus, das in den letzten Jahren reifer, ausgewogener, atmosphärisch dichter geworden ist, und so erleben wir auf seinem neuen Album die Geburt eines poetisch Frühvollendeten.
Schwungvolle Noblesse
Seine ungestüme Leidenschaft, mit der er früher sein Publikum begeisterte, hat sich dabei keinesfalls verflüchtigt. Sie wird jetzt aber mit feinsten Fäden einer lyrischen Empfindsamkeit zusammengehalten, und das kommt der Interpretation von Tschaikowskis prachtvollem Klavierkonzert in besonderer Weise zu Gute. Die gewaltigen Akkorde des Werkes erklingen bei Wunder kristallklar, die melodiöse Lyrik Tschaikowskis erfasst der junge Pianist mit zärtlicher Akkuratesse und der feierliche Ton des Russen überschreitet bei ihm nie die Grenze zum Kitsch. So klassisch, in so vollendeter Brillanz hat man
Tschaikowskis Klavierkonzert in b-Moll selten gehört, und selbiges kann man ohne Einschränkung auch für das ebenso forsch voranschreitende wie melancholisch verträumte Klavierkonzert in e-Moll von Frédéric Chopin sagen. Ingolf Wunder spielt das Konzert, als ginge er auf eine verträumte Reise, und Vladimir Ashkenazy begleitet diesen poetischen Ausflug mit den St. Petersburger Philharmonikern in väterlich sanfter Manier. Das Resultat ist hinreißend.
Sehen Sie hier Ingolf Wunder bei den Aufnahmen in der
Dokumentation zu “Tchaikowsy & Chopin”.