„Ich mag die Doppeldeutigkeit, die darin liegt, dass Gershwin in beiden Welten zu Hause ist“, meint Jean-Yves Thibaudet. „Seine Musik ist grenzenlos“. Und gerade deshalb ist sie auch ein Fall für den vielseitigen französischen Pianisten, der sich auf dem Terrain der zeitgenössischen Moderne ebenso einen Namen gemacht hat wie als Interpret des großen klassischen Repertoires. Gemeinsam mit Marin Alsop und dem Baltimore Symphony Orchestra hat er sich Meilensteinen der amerikanischen Musikgeschichte in ihren originalen Orchestrierungen angenommen, der „Rhapsody In Blue“, dem „Piano Concerto“ und als Bindeglied den „I Got Rhythm-Variations“. Resultat ist ein Programm mit famoser Musik, das vor Lebendigkeit nur so sprüht.
Als George Gershwin die „Rhapsody In Blue“ schrieb, war der Jazz noch jung und hatte erhebliche Legitimationsprobleme. Zum einen merkten vor allem die Künstler, dass in New Orleans und seit den Zwanzigern auch in mehreren anderen amerikanischen Großstädten etwas brodelte, das nach Veränderung klang. Beinahe ebenso schnell gab es findige Figuren, die versuchten, den Trend für die Hochkultur nutzbar zu machen. Einer davon war Paul Whiteman, ein Bratschist aus Denver, der es zu einem der beliebtesten Tanzorchesterleiter der zwanziger Jahre gebracht hatte. Er lancierte den größten Kunstgriff seiner Karriere, als er 1923 einem jungen Tonsetzer namens George Gerswhin, der zuvor vor allem an der New Yorker Schlagermeile Tin Pan Alley Erfolg gehabt hatte, den Auftrag für ein Jazzkonzert gab. Der wiederum brachte das Stück in wenigen Wochen unter enormem Zeitdruck zu Papier und saß bei der Premiere am 12. Februar 1924 in der New Yorker Aeolian Hall sogar selbst am Klavier.
Diese „Rhapsody in Blue“, kaum länger als eine Viertelstunde, sollte die amerikanischen Musikgeschichte verändern. Denn Gershwins Gespür für außergewöhnliche Melodien mit jazzy Flair im symphonischen Kontext polte den Geschmack vieler Zeitgenossen um und trug deutlich dazu bei, dass die zuvor belächelte Musik zum beherrschenden Trend der dreißiger und vierziger Jahre avancierte. Nach dem überraschenden Erfolg der „Rhapsody in Blue“, verbesserte sich die Arbeitssituation des unüberhörbar talentierten Newcomers spürbar. So bekam er im Frühjahr des folgenden Jahres den Auftrag, für das New York Symphony Orchestra ein Klavierkonzert zu schreiben. Gershwin nahm dieses Unternehmen ziemlich ernst, konzentrierte sich von Juli bis Oktober des Jahres auf dessen Realisierung und führte das „Concerto in F“ am 3. Dezember 1925 in der Carnegie Hall gemeinsam mit seinen Auftraggebern auf. Es hatte durchaus Ähnlichkeiten zur „Rhapsody“, das war ja auch gewollt.
Um die originalen Orchestrierungen kümmerte sich Ferde Grofé, allerdings wurde es üblich, sowohl für die „Rhapsody“ als auch für das „Concerto“ auf die sinfonischen Varianten zurückzugreifen. Die ursprünglichen Versionen für Orchester und Jazz Band traten in den Hintergrund, zu Unrecht, wie sich herausstellte. Jean-Yves Thibaudet jedenfalls kann den originalen Fassungen deutlich mehr abgewinnen, weshalb er sie auch als Grundlage seines Gershwin-Programms wählte. „Die ‘Rhapsody’ klingt so viel besser“, erklärt der Pianist seine Einspielung und ergänzt: „Stimmung und Klang sind ganz anders. Man erlebt sie ganz anders – sie ist viel jazziger. Die Leute fragen, ob das Stück Jazz, klassisch oder beides ist. Aber das grundlegende Jazz-Element gehört wirklich zu diesem großartigen Stück, und die ursprüngliche Orchestrierung verleiht ihm die Würze, die es haben sollte“. So Thibaudets Interpretation der „Rhapsody“ ebenso wie des „Concertos“ und der „I Got Rhythm-Variations“, die zusammen mit dem Baltimore Symphony Orchestra unter der Leitung von Marin Alsop entstanden, nicht nur eine herausragende Einspielung der amerikanischen Konzertklassiker, sondern auch eine kleine Korrektur der Darstellung eines genialen Komponisten, dessen Farbkraft und Vitalität jahrzehntelang gedämpft wahrgenommen wurde.