Antal Dorátis Stil war seiner Zeit weit voraus. Er ließ Haydn mit einer glasklaren, kammermusikalischen Einfachheit musizieren, die den besten Beispielen der historischen Aufführungspraxis in nichts nachsteht. Dies, sowie auch die relativ scharfe, deutlich akzentuierte Rhythmik seiner Interpretationen, war ein neuer Ansatz und ein eindeutiger Bruch mit der Art und Weise, wie etwa Bernstein oder Karajan zu dieser Zeit Haydn dirigierten. Infolgedessen wirkt Dorátis revolutionäre Haydn-Deutung noch immer modern und frisch, als wäre sie gerade erst aufgenommen worden. Aus Anlass des Jubiläums-Jahres erscheint die wegweisende Gesamtaufnahmen nun auf 33 CDs in einer streng limitierten Edel-Edition und setzt damit den Standard für die kommenden Haydn-Monate.
Als junger Komponist war Joseph Haydn Teil des Hofstaates des Fürstenhauses Esterházy. Das war zum einen durchaus ein Vorteil, denn auch diese Weise hatte er nicht nur konstant Arbeit, sondern blieb auch regelmäßig mit der Aristokratie in Kontakt, die für die Finanzierung und Aufführung seiner Werke wichtig war. Allerdings hatte der Job auch reichlich Haken: Haydn war gezwungen, mit seinem Dienstherren allsommerlich in die Residenz Esterháza zu ziehen, um sich dort um das akustische Wohl des Fürsten und seiner Familie zu kümmern. Und er bekam eine Menge aufgebrummt. Sein Biograph Georg August Griesinger beschrieb diese Jahre durchaus bildhaft als sehr anstrengend: „Haydn hatte die Hände voll zu thun; er komponirte, er mußte alle Musiken dirigieren, alles einstudieren helfen, Unterricht geben, sogar sein Klavier im Orchester selber stimmen. Er verwunderte sich öfters, wie es ihm möglich gewesen sey, so vieles zu schreiben, da er so manche Stunden durch mechanische Arbeiten verlieren mußte.“
Allerdings zwangen die Jahre als Kapellmeister und musikalischer Adlatus der Esterházys auch zu äußerster Disziplin. Haydn konzentrierte sich vollends auf seine Arbeit, denn er hatte gar keine andere Chance, sinnvoll über die Runden zu kommen. Das wiederum veranlasste ihn, in manchen Dingen über sich hinaus zu wachsen. Ebenfalls über Griesinger ist seine berühmte Stellungnahme zur eigenen Kreativität überliefert: „Ich war von der Welt abgesondert, niemand in meiner Nähe konnte mich an mir selbst irre machen und quälen, und so mußte ich original werden“. Haydn suchte die Grenzen des Besonderen, gerade wenn er sich in den 19 Symphonien, die während der Jahre 1766 bis 1773 auf Esterháza entstanden, den Formalismen seiner Epoche näherte. Denn einiges weicht ab von der Norm, ungewöhnliche Tonarten wie H-Dur etwa (in der „Abschieds-Symphonie“), überhaupt die latente Mollvorliebe im Vergleich zum strahlenden Dur des höfischen Barocks. Das Thema der Sinfonie an sich aber ließ Haydn auch als arrivierten Komponisten nicht los. Er schuf bis hin zu den späten „Londoner Sinfonien“ die klassische Gestalt dieser Kunstform der Viersätzigkeit mit eingeschobenem Scherzo-Menuett und zementierte die Grundlagen der Satztechnik von der Motivtechnik bis zur Sonatenform.
Wenn sich daher ein Dirigent wie der gebürtige Ungar Antal Dorati vornahm, eine Gesamteinspielung der Haydn-Sinfonien zu wagen, dann war ihm klar, dass er sich einem der umfangreichsten Kernzyklen der Orchestermusik überhaupt zuwandte. Er überzeugte mit viel persönlichen Einsatz die Verantwortlichen seiner damaligen Plattenfirma Decca, die Aufnahme sämtlicher Symphonien Joseph Haydns zu verwirklichen, die dann in den Jahren 1969 – 1972 entstand und bis heute Maßstäbe setzt. Während dieser Zeitspanne reiste ein Aufnahmeteam zwei- bis dreimal pro Jahr in die westfälische Kleinstadt Marl, die deutsche Heimat der Philharmonia Hungarica, eines von Antal Doráti als Ehrenpräsident geleiteten Orchesters, das sich aus geflohenen ungarischen Spitzenmusikern zusammensetzte. Dirigent und Orchester waren mit großer Begeisterung bei der Sache, Symphonie für Symphonie wurde unter Verwendung einer gerade erst erschienen, kritischen Ausgabe peinlich genau erarbeitet. Lohn der Anstrengungen waren unter anderem der Grand Prix du Disque, sowie der Deutsche Schallplattenpreis. Die Begründung der Preisrichter von 1974 beschreibt die Qualitäten der Haydn-Deutung Doratis in exemplarischer Form: „Ein in editorischer und künstlerischer Hinsicht imposantes Unternehmen. Hervorzuheben die sorgfältige Edition, die den neuesten musikologischen Stand berücksichtigt. Die Darstellungen haben durchweg hohes, teilweise sogar sehr hohes Niveau. Ungewöhnliche Klarheit des Strukturellen vermittels stets schlanker, luzider Klanggebung verbindet sich mit großer Spontaneität und Frische des Musizierens.“
Antal Doratis Sinfonien-Aufnahme wurden zur Referenz für viele späteren Haydn-Projekte. Das in seiner aktuellen Form 33 CDs umfassende Mammutvorhaben erscheint jetzt in einer streng limitierten Edition, die es so preisattraktiv wie noch nie zuvor ermöglicht, sich diesen diskographischen Schatz ins heimische Wohnzimmer zu holen. Dorátis revolutionäre Haydn-Deutung klingt dabei auch aus der historischen Distanz noch immer modern und frisch, als wäre sie gerade erst aufgenommen worden. Auch editorisch gilt seine Gesamteinspielung der 104 (streng genommen 108, denn die Symphonien Nr. 22, 53 und 63 existieren in zwei Fassungen, zur Symphonie Nr. 103 hat Haydn ein alternatives Ende komponiert) Symphonien als unvergleichlich gelungenes, klassisches Musterbeispiel für derartig umfassende Aufnahmeprojekte.
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