Christoph Willibald Gluck war ebenso produktiv wie umstritten. Von seinen 107 Opern sind zwar nur etwa 50 überliefert, aber die Kontroverse, die er damit anstiftete, hatte weitreichende Folgen für das musikalische Leben. Denn im Anschluss an die Ideen des Librettisten Ranieri de Calzabigi entschloss er sich, die starren Formen der italienischen Oper hinter sich zu lassen. Charaktere sollten nicht mehr nur Typen sein, die nach vorgegebene Mustern funktionierten, sondern Gefühle zeigen und zu tatsächlichen dramatischen Gestalten werden, deren Arien das Geschehen auf der Bühne vorantrieben. Das erfordert bis heute Sänger, die mehr als nur musikalisch famos agieren können und deshalb ist ein Tenor wie der peruanische Opernstar Juan Diego Flórez genau der Richtige, um der anspruchsvollen Titelrolle von „Orphée et Eurydice“ gerecht zu werden.
Die Aufgabe, die Orpheus zu bewältigen hat, ist gewaltig. Er muss als Sänger die Sirenen und Dämonen den Unterwelt soweit betören, dass sie ihn bis zu seiner Frau vorlassen und es ihm ermöglichen, die Geliebte wieder mit zu den Lebenden zu nehmen. Kein Wunder also, dass Christoph Willibald Gluck für die Titelrolle eine Partie schrieb, die lange Jahre als unsingbar galt. Darüber hinaus kam bei „Orphée et Eurydice“ vieles zusammen. Da war zum einen der unmittelbare Anlass der Aufführung, der Geburtstag des Kaisers in Wien anno 1762. Obwohl das Jubeldatum eine Lobeshymne erwarten ließ, lieferte der Hofkomponist Gluck eine finstere mythologische Geschichte über Leidenschaften, Liebe und die Freiheit des einzelnen ab. Aufgeführt wurde sie mit eine Choreographie von Gasparo Angiolinis, einer der führenden Tänzer seiner Epoche und ein glühender Verfechter des individuellen Ausdrucks. Das Werk, das der Komponist selbst als „azione teatrale“ kennzeichnete, wiederum basierte auf einer Vorlage Ranieri de Calzabigis, die nicht mehr den bislang vorherrschenden Rollenspielen der italienischen Oper entsprach. Der begabte Dichter, Librettist und langjährige Textlieferant Glucks trat für die Wiederbesinnung auf antike Tragödienformen ein, die sich von den Tändeleien des Höfischen distanzierten und große Affekte, starke Gefühle, folglich ebenso markante Charaktere auf der Bühne forderten.
Gluck selbst schließlich trug diesen aufklärerischen Gedanken mit einer musikalischen Gestaltung Rechnung, die die strengen Formprinzipien der Oper aufgab und die einzelne Arie wie auch die flexiblen dramatischen Handlungsträger wie Chor und Orchester neu im klanglichen Gefüge verortete, bis hin zu einer fröhlichen Ouvertüre, die zwar mit dem ebenfalls heiteren Schluss sich verband, ansonsten aber von den Totenklage den Anschlussszenen eher fort führte. In jedem Fall markiert „Orphée et Eurydice“ einen Wendepunkt in der Musikgeschichte. Mit diesem Werk fand die klassische und romantische Handlungsoper bis hin zu Richard Wagner ihren Ausgangspunkt. Es hat seine Bedeutung als Markstein der Entwicklung, gehört bis heute zum festen Bestandteil der Repertoireplanung großer Opernhäuser und existiert in drei vom Komponisten selbst entwickelten Version.
Neben dem Original von 1762 in italienischer Sprache schuf Gluck sieben Jahre später eine Bearbeitung für das Opernhaus in Parma. Und da Paris zu den führenden Musikstädten der westlichen Hemisphäre gehörte, ergriff der Komponist darüber hinaus die Gelegenheit, seinen Orpheus 1774 in einer französischen Variante dem dortigen Publikum vorzustellen. Sie diente auch Juan Diego Flórez als Grundlage seiner Titelpartie, die er im Mai und Juni 2008 in umjubelten Gastspielen am Teatro Real in Madrid präsentierte. An seiner Seite konnte man unter anderem Ainhoa Garmendia als Eurydice und Alessandra Marianelli als Liebesgott Amor erleben, die neben dem brillanten Protagonisten mit viel dramatischer Intensität das Bühnengeschehen vorantrieben. Für den orchestralen Rahmen sorgten der Chor und das Orquesta Titular del Teatro Real unter der Leitung von Jesús López-Cobos, so dass eine energiegeladene Opernaufnahme entstehen konnte, die den als Rossini-Spezialisten bekannten Juan Diego Flórez in ungewohntem und überzeugendem Rahmen jenseits des Belcanto dokumentiert. Ein musikalisches Fest, nicht nur für Freude der Gluck’schen Reformoper.
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