Das Interesse an dem Grazer Meisterdirigenten
Karl Böhm ist mehr als drei Jahrzehnte nach seinem Tod immer noch ungebrochen. Einen wie ihn gibt es nicht alle Tage. Er ist das, was man ohne jede Übertreibung ein Jahrhundertgenie nennen kann.
Schneidende Präzision
Die schneidende Präzision seiner Dirigate und die heftigen romantischen Ausbrüche, die in seinen Aufnahmen zur Geltung kommen, sind einfach unwiderstehlich. Wenn Karl Böhm die Wiener Philharmoniker dirigiert, dann entsteht ein satter Klang, der bei aller Heftigkeit doch die feinen Nuancen erkennen lässt. Auf diesem Gebiet ist er unschlagbar. Er versteht sich blendend auf Kontrapunktik und vielschichtige Harmonien.
In seinen jungen Jahren erhält er Privatunterricht bei
Eusebius Mandyczewski, einem der engsten Freunde von
Johannes Brahms. Hier wird er mit dem nötigen musikalischen Rüstzeug ausgestattet. Er verinnerlicht das hohe Gebot präziser Rhythmik und klarer Harmonik. Das Studium von Partituren bereitet ihm schon bald keine Schwierigkeiten mehr. Der junge Böhm erlebt Musikerlegenden wie
Felix Weingartner und hört die Stimme von
Enrico Caruso – Persönlichkeiten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Wiener Opernbetrieb wirken.
Romantische Ausbrüche
Musikalisch steht die Zeit, in die Karl Böhm am 28. August 1894 hineingeboren wird, ganz im Bann
Richard Wagners. Bis in Böhms Familie hinein reicht der Einfluss. Der Vater ist ein eingefleischter Wagnerianer, und der Sohn schmiegt sich dieser Neigung an. Doch dabei bleibt es nicht. Moderne Komponisten wie
Richard Strauss und
Alban Berg, mit denen er später Freundschaft schließen wird, interessieren ihn ebenfalls, und so entwickelt sich eine komplexe Dirigentenpersönlichkeit, die sich nicht allein von der Spätromantik nährt, sondern auch in die
Wiener Klassik zurückblickt und offen für musikalischen Avantgardismus ist.
Die Früchte sind enorm, und wer sie in reifer Gestalt genießen möchte, der sollte unbedingt auf die jetzt erschienene, streng limitierte Edition “Karl Böhm: Late Recordings” zurückgreifen. Die Sammlung umfasst 23 CDs und enthält alle Aufnahmen, die Karl Böhm ab 1970 für Deutsche Grammophon getätigt hat.
Enormes Repertoire
Der weitaus größte Teil wurde mit den Wiener Philharmonikern aufgenommen. Mit der
Dresdner Staatskapelle, der er sich sehr verbunden fühlte, hat Böhm u.a.
Beethovens “
Fidelio” (CD 2) und
Schuberts Neunte (CD 16) aufgenommen. Mit dem
London Symphony Orchestra spielte er
Tschaikowskis vierte, fünfte und sechste Sinfonie ein (CDs 19–21). Die Aufnahmen mit den Wiener Philharmonikern bilden ein breites Spektrum. Es reicht von
Mozart-Sinfonien und dem Requiem des Wiener Klassikers (CDs 9–13) über späte
Haydn-Sinfonien (CDs 7–8), Beethovens Sinfonie Nr. 9 (CD 1, mit Plácido Domingo), die Egmont-Ouvertüre (CD 2) und die
Missa solemnis (CDs 3–4), Schuberts fünfte und achte Sinfonie (CDs 14–15),
Schumanns vierte Sinfonie (CD 14),
Bruckners siebte und achte Sinfonie (CDs 5–6),
Dvořáks neunte Sinfonie (CD 15) bis hin zu Walzern von
Johann Strauss (CD 17), “
Ein Heldenleben” von Richard Strauss (CD 18) und Orchestermusik von Richard Wagner (CDs 22–23).
Gelungene Edition
Dieses gewaltige Pensum bewältigt Karl Böhm an seinem Lebensabend! Als er 1980 mit
Plácido Domingo Beethovens Neunte aufnimmt, ist er 86 Jahre alt. Der spanische Sänger ist überwältigt von der musikalischen Größe des Dirigenten. Böhm ist schwach auf den Beinen, aber sobald er zu dirigieren beginnt, lebt er auf und schöpft mit gewaltiger Energie aus seiner reichen Musikerfahrung. Diese ebenso reife wie energische Musikalität ist in den späten Aufnahmen spürbar und macht die jetzt erschienene Edition zu einem wertvollen Fundus. Der im Booklet abgedruckte Essay von
Gottfried Kraus und die seltenen Fotos von Karl Böhm rahmen die Edition gelungen ein.