Seine Genauigkeit war legendär. Noch im hohen Alter arbeitete er immer wieder akribisch an einzelnen Passagen, selbst wenn er bereits seit Jahrzehnten mit einer Partitur vertraut war.
Modern wider Willen: Karl Böhm (1894–1981)
Ob bei Richard Strauss, bei Johannes Brahms oder Ludwig van Beethoven, Böhm ging jeden Takt mit allergrößter Sorgfalt durch und probte so lange mit seinem Orchester, bis er das gewünschte Ergebnis hatte. Der ein oder andere Orchestermusiker mag ihn verflucht haben, und es gab Kritiker, die seine rhythmische Strenge für falsch hielten und sagten, dass das Orchester so an an seiner freien Entfaltung gehindert werde.
Böhms Interpretationskunst hat sich, allen Unkenrufen zum Trotz, durchgesetzt. Mehr noch: Sie findet in den letzten Jahren immer mehr Fürsprecher. Durch die wachsende Distanz zu seinem Leben rückt das Werk in den Vordergrund, und die Aufnahmen des Maestros haben eine enorme Kraft. Ihre harmonische Klarheit und rhythmische Strenge sind von elektrisierender Modernität, auch wenn
Karl Böhm wahrscheinlich der letzte gewesen wäre, der sich mit Etikett “modern” geschmückt hätte.
Klassiker der Aufnahmegeschichte: Vorwiegend romantisches Repertoire
Tatsache ist jedoch, dass sein Werk fortlebt. Das hat die im Vorjahr erschienene Edition mit den späten Aufnahmen des österreichischen Meisterdirigenten eindrucksvoll unter Beweis gestellt. “Karl Böhm – Late Recordings” kam glänzend beim Publikum an, was Deutsche Grammophon dazu bewogen hat, eine weitere Böhm-Edition auf den Markt zu bringen. Diese Ausgabe ist soeben erschienen. Sie versammelt auf insgesamt 17 Tonträgern legendäre Aufnahmen von Karl Böhm.
Das Repertoire reicht von den Komponisten der Wiener Klassik über Schubert und Brahms bis hin zu Gustav Mahler und Richard Strauss. Zu den Highlights der Ausgabe gehört zweifellos die Walzerfolge aus dem dritten Akt des Rosenkavaliers. Niemand hat die tänzerischen Nuancen von Richard Strauss so tief durchdrungen wie Karl Böhm in dieser Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern. Aber auch die symphonischen Dichtungen des schillernden Spätromantikers entfalten sich bei Böhm prächtig.
Mit spannendem Booklet: Eine klanglich reichhaltige Edition
Hier kommt man in den Genuss des fein ausgewogenen Klangs der Berliner Philharmoniker, die Werke wie “Also sprach Zarathustra” oder “Till Eulenspiegels lustige Streiche” mit hinreißender Musizierfreude darbieten. Haydns “Die Jahreszeiten” hat Böhm mit den Wiener Symphonikern aufgenommen, die unter seiner Leitung enthusiastisch aufspielen. Herrlich dieser tänzerische Furor, dieser sinnliche, volle Klang.
Ebenso energisch wie tiefsinnig klingen Beethoven und Brahms bei Böhm. Kaum zu glauben, dass es sich hierbei um dasselbe Orchester handelt, mit dem Karl Böhm Mozarts Serenade für 13 Blasinstrumente überaus galant schreiten lässt. Aber die Berliner Philharmoniker sind Verwandlungskünstler, wie die behutsamen Schubert-Interpretationen der Ausgabe eindrucksvoll unter Beweis stellen.
“Karl Böhm – Great Recordings 1953–1972” ist eine klanglich reichhaltige Edition. Sie versammelt Aufnahmen aus den inspirierendsten Jahren des österreichischen Dirigenten und eignet sich prächtig als Ergänzung zu “Karl Böhm – Late Recordings”. Aber auch für sich ist die Edition reizvoll, hat sie doch mit den seltenen Böhm-Fotos im Booklet und dem brandneuen Essay von Helge Grünewald auch äußerlich einiges zu bieten.