Als Keith Jarrett 2016 eine ausgedehnte Solo-Tournee durch Europa unternahm, konnte noch niemand ahnen, dass es seine letzte sein würde. Jedes einzelne der Soloklavierkonzerte dieser Tournee besaß einen ganz eigenen Charakter. Und bei seinem Auftritt im Auditorium der Opéra National de Bordeaux stand – obwohl die Musik viele wechselnde Stimmungen durchlaufen sollte – der lyrische Impuls im Vordergrund.
Jarrett bot dem Publikum an diesem Abend eine improvisierte dreizehnteilige Suite, in deren Verlauf es viele leise Entdeckungen zu machen gab. Die Musik ist in ihrer Gesamtheit von einer bewegenden Frische. Und die Aufnahme vermittelt einen Eindruck von der intimen Kommunikation, die zwischen dem Pianisten auf der Bühne und den 1.400 aufmerksamen Zuhörern im Saal stattfand.
Auffallend ist, dass Jarrett diesmal – entgegen seiner Gewohnheit – nicht auf Standards zurückgriff, um seine Aufführung abzurunden. Der Bogen der spontan komponierten und oft intensiv melodischen Musik ist in sich selbst absolut schlüssig und vollständig. In den Solokonzerten, die Jarrett im Herbst seiner Karriere gab, gelang es ihm nicht nur, die Musik, die ihm ad hoc in den Sinn kam, von einem Moment auf den anderen zu kanalisieren, sondern auch einen Sinn für eine größere Struktur anzudeuten, indem er ihre Episoden und Stimmungen fein ausbalancierte.
In ihren Konzertkritiken verglich die französische Presse den organischen Fluss der Musik mit jenem, der auf Jarretts frühen Meisterwerken “Köln Concert” und “Bremen/Lausanne” vorzufinden war. Und tatsächlich sind auch große Teile des “Bordeaux Concert” einfach nur betörend schön. Jarrett scheint die zarten Melodien hier aus der Luft zu pflücken, während das Publikum in nahezu andachtsvoller Stille lauscht. “Er spielt, was er noch nie gespielt hat, was niemand jemals zu spielen gewagt hat, was niemand jemals wieder spielen wird”, schrieb der Kritiker Francis Marmande hinterher in Le Monde.
Das Publikum im Bordeaux war schon seit langem mit Jarretts Musik vertraut gewesen. Die Hauptstadt der Region Nouvelle-Aquitaine war eine der ersten europäischen Städte, in denen der Pianist seine Musik vorstellte. Bereits 1970trat er dort mit einem Trio auf, das er damals mit zwei Musikern der progressiven Pariser Jazzszene gebildet hatte: dem Bassisten August “Gus” Nemeth und dem Schlagzeuger Aldo Romano. In den frühen 1990ern kehrte Jarrett in die Stadt mit seinem “Standards”-Trio mit Gary Peacock und Jack DeJohnette zurück. Das Konzert, das er am 6. Juli 2016 im Auditorium der Opéra National de Bordeaux gab, war allerdings sein einziger Soloauftritt in der Stadt. Ermöglicht wurde er durch das “Jazz and Wine Bordeaux Festival” und dessen künstlerischen Leiter Jean-Jacques Quesada.
“Bordeaux Concert” ist bereits der dritte Konzertmitschnitt, der von Keith Jarretts letzter Solo-Europa-Tournee erschienen ist (eine Vinyl-Edition des Albums wird im Oktober erhältlich sein).
Im November 2019 veröffentlichte ECM Records zuerst das “Munich Concert” und im Oktober 2020 das “Budapest Concert”. Beide Alben wurden in der Presse hymnisch gefeiert.
In der Abendzeitung schrieb Ssirus W. Pakzad über “Munich 2016”: “An diesem 16. Juli 2016 stürzte Keith Jarrett sich und seine Zuhörer in ein Wechselbad der Gefühle. Auf sanftes Pathos sollte ein übermütiger Blues folgen. Dann wieder: ein ganz in sich gekehrter Keith Jarrett. Dieses Konzert, das mit einer zum Heulen schönen Fassung des Klassikers ‘Over The Rainbow’ endete, wurde zum Glück für die Nachwelt festgehalten. Es zeigt den Klavier- und Improvisations-Virtuosen auf dem Gipfel seines Schaffens.”
Zum “Budapest Concert” meinte in der Frankfurter Allgemeine Zeitung wiederum Wolfgang Sandner: “Vergleicht man das ‘Budapest Concert’ vom 3.
Juli 2016 mit der Aufnahme aus München vom 16. Juli des Jahres, erlebt man beide Male Sternstunden in der an Sternstunden reichen Karriere Keith Jarretts; einen erstaunlichen Kosmos pianistischer Klangmöglichkeiten, brillante Musik, die sich in alle möglichen und unmöglichen Richtungen des Quintenzirkels ausbreitet, atonal darüber hinausschießt, keine metrisch-rhythmischen Beschränkungen kennt und doch stets zu schlüssigen Formen zurückfindet. Und immer wieder überwältigende Beispiele einer sinnlich schönen Klangkunst ohne auch nur die Spur einer ästhetisch fragwürdigen Trivialität.”