Das Live-Album “At The Dear Head Inn”, das Keith Jarrett am 16. September 1992 mit Gary Peacock und Paul Motian im Deer Head Inn eingespielt hat, nimmt unter all den Aufnahmen, die der Pianist der Auseinandersetzung mit Jazzstandards und dem “Great American Songbook” gewidmet hat, eine Sonderstellung ein. Mit “The Old Country” erscheint nun ein weiteres Tondokument von demselben Konzert, das ebenfalls in mehrfacher Hinsicht von großer historischer Bedeutung ist.
Idyllisch in den Pocono Mountains am Delaware Water Gap in Pennsylvania gelegen, bietet das Deer Head Inn neben Übernachtungsmöglichkeiten schon seit 1950 kontinuierlich Live-Musik und ist damit einer der ältesten Jazzclubs der USA. 1961 gab der Club dem damals 16-jährigen Keith Jarrett die Gelegenheit, zum ersten Mal mit einem eigenen Trio vor Publikum aufzutreten. Als die Besitzer Bob und Fay Lehr 1992 in den Ruhestand gingen und die Leitung an ihre Tochter Dona und ihren Schwiegersohn Christopher Solliday übergaben, bot Keith Jarrett an, erneut dort aufzutreten, um das anhaltende Engagement des Clubs für den Jazz zu würdigen.
Wenig überraschend spielte Keith Jarrett mit Gary Peacock und Paul Motian vor ausverkauftem Haus. Die Veranstaltung war nicht beworben worden, aber die Nachricht von dem bevorstehenden Konzert verbreitete sich durch Mundpropaganda wie ein Lauffeuer. The Morning Call, die Lokalzeitung von Jarretts Heimatstadt Allentown, berichtete später: "Von den 130 Leuten im Club mussten 30 stehen. Und draußen auf der Veranda drängten sich weitere 50 oder 60 Leute".
Das spontan organisierte Konzert bot damals die einzige Gelegenheit, Jarrett in dieser Konstellation live zu erleben. Der Bassist Gary Peacock war zu dieser Zeit ein engagiertes Mitglied von Jarretts sogenanntem Standards Trio, das durch Jack DeJohnette vervollständigt wurde. Schlagzeuger Paul Motian wiederum hatte den Pianisten 1967 zusammen mit Charlie Haden bei der Einspielung seines allerersten Soloalbums "Life Between the Exit Signs" begleitet und war danach sechs Jahre lang Mitglied von Jarretts American Quartet, das unter anderem auf den ECM-Alben "The Survivors Suite" und “Eyes Of The Heart” zu hören ist. Doch seit der Auflösung dieser Gruppe im Jahr 1976 hatte Motian nicht mehr mit Jarrett zusammengearbeitet. “Ich war nicht nur seit 30 Jahren nicht mehr als Pianist im Deer Head aufgetreten, sondern hatte auch seit 16 Jahren nicht mehr mit Paul Motian zusammengearbeitet. Es war also wie eine Wiedervereinigung und zugleich eine Jamsession”, schrieb Jarrett in den Liner Notes des Albums “At The Deer Head Inn”, auf dem 1994 eine erste Auswahl des bei diesem historischen Auftritt mitgeschnittenen Materials veröffentlicht wurde.
Das "Deer Head Inn"-Projekt ließ noch eine weitere alte Freundschaft Jarretts wieder aufleben. Denn die Idee, das Konzert aufzuzeichnen, stammte von dem Schlagzeuger Bill Goodwin, der auf dem Cover auch als Produzent genannt wird. Goodwin hatte 1970 bei der Aufnahme des Albums “Gary Burton & Keith Jarrett” für Atlantic mitgewirkt und war später zum Quartett des Altsaxofonisten Phil Woods gestoßen, das viele Jahre lang regelmäßig im Deer Head Inn auftrat. Eigentlich wollte er das Konzert nur für Keiths persönliches Tonarchiv dokumentieren. Doch als der Pianist die Aufnahmen hörte, war ihm sofort klar: “Das muss veröffentlicht werden… Ich glaube, dass man auf dieser Aufnahme gut hören kann, worum es im Jazz geht.”
Als "At The Deer Head Inn" 1994 veröffentlicht wurde, stimmte die Presse der Einschätzung des Pianisten zu. “Die Musik hat den Schwung und die unerschrockene Gefühlsbetontheit von Keith Jarretts besten Werken”, schrieb Stereophile. Gramophone hob unterdessen das “fesselnde” Zusammenspiel hervor, während die Los Angeles Times die Aufnahme als “ein Kompendium der Anmut” lobte.
Dreißig Jahre nach der Veröffentlichung von “At The Deer Head Inn” hielten es Keith Jarrett und Manfred Eicher für an der Zeit, sich den kompletten Konzertmitschnitt noch einmal anzuhören. Für das Album “The Old Country”, dessen Untertitel “More From The Deer Head Inn” auf das Vorgängeralbum verweist, wählten sie acht bisher unveröffentlichte Stücke aus. Das Repertoire umfasst mit “Everything I Love” und “All Of You” gleich zwei Stücke von Cole Porter, “Straight No Chaser” von Thelonious Monk, “I Fall In Love Too Easily” von Jule Styne, “Someday My Prince Will Come” von Frank Churchill, “How Long Has This Been Going On” von George Gershwin, “Golden Earrings” von Victor Young und “The Old Country” von Nat Adderley.