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Keith Jarrett atmet Bach – Denkwürdiges Recital in New York

Keith Jarrett
Yasuhisa Yoneda / ECM Records
13.06.2019
Er ist ein Mann produktiver Widersprüche. Als Jazz-Improvisator scheut er nicht davor zurück, seine ganze Persönlichkeit in den musikalischen Prozess einzubringen, innerlich loszulassen und sich emotional zu offenbaren. Als Bach-Interpret übt er sich dagegen in Zurückhaltung, in aufmerksamem Zuhören und einer lyrisch dominierten Spielweise. Auf den ersten Blick scheint dies seinem freiheitlichen Temperament entgegenzustehen. Doch wenn man genauer nachforscht, dann stößt man auf eine Vokabel, die seine unterschiedlichen Herangehensweisen an den Jazz und an klassisches Repertoire miteinander verbindet.
Musikalische Ekstase
Der Missing Link lautet Ekstase. Musik ist für Keith Jarrett wesenhaft Ekstase. Ekstase heißt, aus sich selbst herauszutreten, von sich abzulassen, und das tut der klassische Interpret nicht weniger als der Jazz-Improvisator. Der Jazzpianist tritt aus sich heraus, indem er sein Innerstes nach Außen kehrt. Der klassische Interpret lässt sein Innerstes dagegen ruhen. Er abstrahiert von seinen persönlichen Ideen, Vorurteilen und Empfindungen, um offen zu sein für einen Dialog mit dem Komponisten, den er gerade interpretiert.  
Keith Jarrett hat dies in seinen Bach-Interpretationen beherzigt wie kaum jemand sonst. Er stellte sein Ego zurück, lauschte Bach und verinnerlichte jede Stimme der Goldberg-Variationen, der Französischen Suiten oder des Wohltemperierten Klaviers. Die musikalische Pointe seiner Bach-Aufnahmen, die seit den 1980er Jahren beim Münchener Label ECM New Series erschienen sind, ist ein hochkonzentrierter Ton, der keine Ablenkung duldet und an die spirituelle Wurzel von Bachs weitverzweigter Kontrapunktik gemahnt.     
Diskreter Improvisando-Stil
Dennoch hat sich die Jarrett-Community gefragt, wo eigentlich der Jazzer bleibt, wenn Keith Jarrett Bach spielt. Diese Frage ist naheliegend, denn erstens gibt es, wenn man an Größen wie Jacques Loussier, Stéphane Grappelli oder die Swingle Singers denkt, eine anspruchsvolle Jazztradition der Bach-Aneignung, und zweitens teilt Jarrett mit Bach die Begabung des Improvisierens. Auch Bach galt als begnadeter Improvisator. Er setzte sich ans Cembalo, dachte sich spontan Themen aus und verarbeitete sie aus dem Stegreif in komplexer harmonischer Manier.
Dass selbst formstrengen Werken von Bach eine diskrete improvisatorische Note guttut, deutete Jarrett mit seinen Studioaufnahmen des “Wohltemperierten Klaviers” aus den Jahren 1988 (ECM 1362/63) und 1991 (ECM 1433/34) sowohl am Klavier als auch am Cembalo vorsichtig an. Bei aller strategischen Zurückhaltung, die er in seinen Interpretationen walten ließ, waren behutsame Ansätze des Improvisatorischen in beiden Studioalben hörbar. In dem gerade erschienenen Live-Mitschnitt, auf dem er mit dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers am Flügel zu erleben ist, gilt dies allerdings in noch stärkerem Maße.  
Überraschende Intensitäten
Das Recital fand im März 1987 statt, ein Monat, bevor Jarrett die Aufnahmen für sein Studioalbum mit dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers beendet hatte. Ort des Geschehens ist die Troy Savings Bank Music Hall, ein Konzertsaal im Bundesstaat New York, der für seine differenzierte Akustik bekannt ist. Die Stimmung ist hochkonzentriert. Jarrett achtet auf die innere Geschlossenheit des Wohltemperierten Klaviers. Er bewahrt die strenge Form und ändert keineswegs die Devise seines Bach-Spiels: persönliche Zurückhaltung. Dennoch gibt es Sprünge, überraschende Intensitäten, plötzliche Spots auf Harmonien oder Rhythmen, die in den Studioversionen und in vielen anderen Referenzaufnahmen des Wohltemperierten Klaviers dunkel bleiben.
Zweifellos rückt durch den Liveact die Persönlichkeit des Künstlers stärker in den Vordergrund. Man spürt allenthalben den spontanen Zugriff Jarretts, seine augenblickliche Gefühlslage. Das macht sich insbesondere in stimmungsintensiven Momenten des Wohltemperierten Klaviers bezahlt, so etwa in der abschiedlich klingenden Fuge in h-Moll (BWV 869), die Keith Jarrett mit frappierender Geduld, gravitätisch schreitend angeht. Durch die langsame Tempowahl schafft er sich viel Raum, um die melancholische Intensität dieser Fuge zu erkunden. Es sind solche und viele andere überraschende Akzente, die den Reiz seines neuen Live-Albums ausmachen.

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