Seine letzte Solo-Europatournee schloss Keith Jarrett am 16. Juli 2016 in der Münchener Philharmonie mit einem umjubelten Konzert ab. An diesem Abend schienen der Phantasie des großartig improvisierenden Pianisten neue Flügel gewachsen zu sein. Mit der Sicherheit eines erfahrenen Baumeisters erschuf Jarrett aus Formen ad hoc eine Suite, in die er zwischen Stücke von polyrhythmischer und harmonischer Komplexität immer wieder simple Blues-Motive und lyrische, folksongähnliche Elemente einstreute. Der Pianist lieferte an diesem Abend, der auf der nun vorliegenden Doppel-CD “Munich 2016” dokumentiert ist, nach Meinung vieler Beobachter eine seiner allerbesten Darbietungen ab. Das aufmerksame und wertschätzende Publikum folgte gebannt jeder einzelnen Note, jeder Nuance, und wurde im Zugaben Teil mit wunderbar einfühlsamen Interpretationen dreier Jazzstandards belohnt: der Reigen begann mit dem durch Nat King Cole bekannt gewordenen “Answer Me, My Love” des deutsch-österreichischen Songwriter-Gespanns Gerhard Winkler und Fred Rauch, gefolgt von einer geradezu magischen Version des Frank-Sinatra-Klassikers “It’s A Lonesome Old Town” und gipfelte mit Harold Arlens “Somewhere Over The Rainbow” in einer Nummer, die Jarrett seit Jahrzehnten besonders gerne zum Abschluss seiner Solokonzerte (siehe etwa “La Scala”, 1995) spielt.
Die Aufnahmen von Jarretts Solokonzerten bilden ein wirklich einzigartiges und sich kontinuierlich weiterentwickelndes Œuvre innerhalb seiner umfangreichen Diskographie. Wenn man der Linie folgt, die der Pianist 1973 mit “Solo Concerts Bremen-Lausanne” begann, begibt man sich auf eine außergewöhnliche musikalische Reise. Zu den Höhepunkten entlang des Weges gehören natürlich “The Köln Concert”, die monumentalen “Sun Bear Concerts” (die bald in einer ZEIT-Edition wieder auf Vinyl erscheinen werden), “Concerts” (1981 aufgenommen in Bregenz und München), “Paris Concert”, “Vienna Concert”, “La Scala”, “Radiance”, “The Carnegie Hall Concert”, “Testament”, “Creation”, “A Multitude Of Angels”, “Rio” und “La Fenice”. Mit “Munich 2016” wird die Geschichte nun auf den neuesten Stand gebracht. Durch die außergewöhnliche Intensität, mit der Jarrett dieses “Heimspiel” bestritt (in München ist bekanntlich sein Stammlabel ECM Records zu Hause, das dieses Jahr sein 50-jähriges Jubiläum feiert), geriet diese Performance zu einem der wirklich herausragenden Konzerte des Pianisten.
Die Art, wie Jarrett seine Solokonzerte gestaltet, hat sich im Laufe der Jahre verändert. Die großen, ungebrochenen Improvisationsbögen seiner frühen Auftritte, die sich über ein ganzes Konzert erstreckten, sind seit geraumer Zeit diskreten, sehr fokussierte Spontankompositionen gewichen. Mit seinen improvisierten Solokonzerten setzte Jarrett in den 1970er Standards, denen seitdem immer mehr Pianisten nacheifern. Doch sein Gespür für das Entwickeln von Motiven und Melodien und das Freilegen von Formen in Echtzeit ist schlicht unerreicht. Es gibt immer noch nichts, das einem Solokonzert von Keith Jarrett gleicht. Als der Pianist 2003 mit dem Polar Music Prize ausgezeichnet wurde, schrieb das Komitee in seiner Begründung: “Durch eine Reihe von brillanten Solo-Performances und -Aufnahmen, die seine absolut spontane Kreativität beweisen, hat Keith Jarrett die Klavierimprovisation als Kunstform auf neue, unvorstellbare Höhen geführt.”