Als Keith Jarrett im November 1971 in einem Osloer Studio sein erstes Soloalbum für ECM einspielte, konnte noch niemand ahnen, daß er damit eine stille Revolution im Jazz einleiten würde. Im Jahr zuvor hatte der damals 26jährige Pianist noch als elektrisch verstärkter Tastenvirtuose an der Seite von Miles Davis gewirkt und mit diesem sowie anderen Koryphäen des modernen Jazz (u.a. John McLaughlin, Herbie Hancock, Chick Corea, Dave Holland, Ron Carter, Jack DeJohnette und Billy Cobham) Aufnahmen für die Alben “Get Up With It”,"Directions", “Miles Davis At Fillmore” und “Live – Evil” gemacht. Dann debütierte er im Duo mit Jack DeJohnette und der Platte “Ruta & Daitya” (ECM1021) bei ECM. Das im März 1971 eingespielte Album sollte zugleich Jarretts Abschied vom elektrischen Instrumentarium und den rockigen Beiklängen bedeuten. Mit “Facing You” schlug Keith Jarrett acht Monate später ein neues Kapitel in seiner Karriere auf: das der pianistischen Soloimprovisation.
“Ein neues Jazzklavier artikuliert sich. Es ist zwar keineswegs über Nacht entstanden, aber nie zuvor in dieser Konsequenz aufgetreten. Ein Jazzklavier, dessen Neuigkeit darin besteht, daß es – so paradox es klingen mag – nicht mehr viel mit ‘Jazz’ zu tun hat”, beschrieb Uwe Andresen seine Eindrücke von “Facing You” in dem Buch “Keith Jarrett – Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten” (Oreos-Verlag). “All das ist immer mit einer gewissen Schwermütigkeit verbunden, ist doch die Proklamation des Gefühls ein intellektueller Anspruch. Jarrett verblüfft dabei jedoch durch eine enorme Leichtfingrigkeit. Er bleibt nicht durch emotionalen Sirup an den Tasten kleben, sondern weckt die Erinnerung an einen kristallklaren Fluß der Gefühle. Dort gibt es horizontale wie vertikale Strömungen, Wirbel und Strudel. Aufgewühlt manchmal, und dann wieder ruhig bis an die Grenze zum Stillstand, je nachdem, wie breit dieses Flußbett ist. Aber ‘Facing You’ ist mehr. Denn nie zuvor hat Jarrett so intensiv und ausschließlich mit kleinen Motiven gearbeitet. (‘Motiv’ übrigens im musikalischen wie im bildlichen Sinne verstanden.) Die rechte Hand singt melancholische Lieder, die linke seufzt wehmütig dazu. Wahre Elegien sind’s zum Teil, die Jarrett in vergleichsweise kurzen Stücken intoniert. Der zehnminütige Eingangstitel ‘In Front’ läßt nachträglich ahnen, wie knapp Jarrett schon davor ist, diese Lieder zu einer Mischung aus Requiem und Kantate auszudehnen. Das ist nämlich praktisch schon der solokonzertante Pianist, der auf einem großen, atmenden Improvisationsbogen bunte bis farbenprächtige Motivketten reiht, dessen Virtuosität nicht in Fingerakrobatik verharrt, sondern sich auf die Architektur richtet, auf das übergeordnete Zeitmaß, die große Dynamik.”
“Erstlinge neigen zu Redundanzen. Denn sind die Künstler unter Vertrag, wollen sie auch zeigen was in ihnen steckt”, beobachtete der Jazzkritiker Ralf Dombrowski. “Keith Jarrett machte da keine Ausnahme und ließ sich auf ‘Facing You’ voller Impulsivität in eine Welt der Improvisationen fallen. Allerdings hatte der damals 26jährige Pianist aus Allentown, Pennsylvania, vor seinem Solo Einstand bei der Plattenfirma ECM bereits einiges an Erfahrungen hinter sich gebracht. Drei Jahre bei Art Blakey, Kooperationen mit Charles Lloyd, Charlie Haden und Paul Motian und schließlich die Zeit 1969 bis 1971 in der Electric Jazz Band von Miles Davis ließen ihn an der Seite berühmter Kollegen wachsen. So konnte Jarrett im Jahr 1972 mit ‘Facing You’ den großen Wurf wagen, ohne Gefahr zu laufen, sich als genialischer Träumer im Nirwana der Introspektion zu verlieren. Tatsächlich markiert das Album den Wendepunkt eines Trends. Hardbop und Free, Jazzrock und Fusion neigten dazu, die Musik immer mehr anzufüllen, zu verfremden, zu überhöhen. Jarrett zog die Interpretationsbremse und reduzierte die Klänge auf das Individuelle. Der Virtuose und sein Instrument, ein Mythos der bürgerlichen Konzertsaalkultur, wurde voll Emphase wiederbelebt und mit neuer Kraft gefüllt. Denn die acht eigenen Kompositionen vereinen den freien Puls der Avantgarde mit der Romantik der unmittelbaren Schaffenskraft. Jarretts Hang zur Harmonie trotz hartem, klaren Anschlag und seine choralhafte Innerlichkeit verschaffen schon ‘Facing You’ die Aura der Gefühlstiefe, die später mit ‘The Köln Concert’ weltberühmt wurde. Ein Meilenstein.”
Aufnahme am 10. November 1971 in Oslo (LP Veröffentlichung 1971) – Weitere Veröffentlichungen der Soloprojekte von Keith Jarrett finden Sie
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