Vor beinahe 20 Jahren taten sich Keith Jarrett, Gary Peacock und Jack DeJohnette das erste Mal zusammen, um für das ECM-Album “Standards, Vol. 1” Jazzklassiker einzuspielen. Seither begeisterten sie die Jazzwelt immer wieder mit ihren höchst originellen Interpretationen zahlreicher Jazzstandards. Die Identifikation mit dem Material ging soweit, daß Jarrett, Peacock und DeJohnette voller Ehrfurcht bald nur noch das “Standards”-Trio genannt wurden. Nun ist es an der Zeit, dem Trio einen neuen Spitznamen zu verpassen. Denn auf der brandneuen, in Tokio live mitgeschnittenen Doppel-CD “Always Let Me Go” wird völlig ohne Netz und doppelten Boden musiziert. Das Trio nimmt sich die Freiheit von A bis Z zu improvisieren.
“Seit dem vorigen Album (‘Inside Out’) ist Keith Jarrett mit dem Trio da, wo er mit seinen Solokonzerten immer war: beim freien Spiel, beim Schaffen weiter Strukturbögen aus dem Moment heraus”, schrieb Berthold Klostermann in Fono Forum. “Der Titel ‘Always Let Me Go’ ist Programm: ironische Anspielung auf die Vergangenheit des Trios, das den Standard ‘Never Let Me Go’ von Jay Livingston und Ray Evans immerhin zweimal aufnahm, und Imperativ des Zusammenspiels. Denn Jarrett, Peacock, DeJohnette lassen einander los, halten die Zügel locker, wechseln mit traumwandlerischer Sicherheit die Rollen und sind doch stets beieinander. Von den teils halb-, teils viertelstündigen, teils kürzeren Stücken des Doppelalbums, das bei Konzerten in Tokio mitgeschnitten wurde, sind nur zwei als Kollektivimprovisationen ausgewiesen, doch – abgesehen von einem kleinen, stillen Solo für Klavier (‘The River’) – herrscht immer der Geist des Interplays, des Austausches, des Gebens und Nehmens von Impulsen. Wie aus dem Nichts entstehen so kleine Melodien, satte Grooves, beiläufige Stilzitate aus der Jazzgeschichte und eruptive, geräuschhafte Verdichtungen. Ein derart permanentes Fluktuieren zwischen Dichte und Offenheit erreicht eine Band nicht einfach durch freies Spielen und Reagieren. Dazu bedarf es nicht nur ‘großer Ohren’, sondern gemeinsam gewonnener Erfahrung. Unser Trio erarbeitete sich diese anhand der Standards.”
Jarretts Vorstellung von freier Musik ist sehr weitgehend. Aller Spontanität zum Trotz strotzen diese Aufnahmen vor Melodien. Einerseits gibt es zahlreiche Anspielungen auf die Jazzgeschichte, andererseits gehen die Impovisationen des Trios weit darüber hinaus. Es gibt Kaskaden von Ton-Clustern, zerbrechliche lyrische Passagen, großartige Grooves, dynamische Extreme, Atempausen und dezente Dissonanzen. (“Denken Sie an Webern”, sagte Keith Jarrett, als er FAZ-Musikredakteur Wolfgang Sandner vor einiger Zeit die introvertierteren Passagen der in Tokio eingespielten Musik beschreiben wollte.) Wohl nie zuvor hat das Trio so perfekt zusammengespielt wie bei diesen Aufnahmen.
In Japan machte Keith Jarrett schon einige seiner bedeutendsten Einspielungen: 1974 entstand dort “Personal Mountains” mit dem sogenannten Belonging-Quartett (Jan Garbarek, Palle Danielsson und Jon Christensen), 1976 die epochalen “Sun Bear Concerts” (die auf zehn LPs bzw. sechs CDs veröffentlicht wurden) und 1996 “Tokyo ’96” mit Gary Peacock und Jack DeJohnette. Nun folgt “Always Let Me Go” mit seinen organischen Improvisationen und dem berauschenden Zusammenspiel.
“'Inside Out' war nur eine Art Präludium für das, was wir jetzt spielen”, verriet Jarrett dem amerikanischen Jazzmagazin Downbeat. “Wir sind diesmal in sehr viel höhere Sphären des freien Spiels vorgestoßen. Was wir jetzt machen, ist sehr viel freier…” Während das Trio beim Spielen der Standards oft noch gewissen Konventionen folgte, wechseln die Musiker bei “Always Let Me Go” konstant die Rollen. Mal ist es Pianist Keith Jarrett der Führung übernimmt, dann wieder ist es Bassist Gary Peacock oder Schlagzeuger Jack DeJohnette.
Mit “Always Let Me Go” setzte das Trio von Keith Jarrett, Gary Peacock und Jack DeJohnette einmal mehr neue Standards. “Hier sind Götter am Werk, und die Blitze, die sie um sich schleudern, sind ehrfurchtgebietend”, meinte der Kritiker Glenn Swan vom All Music Guide.
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