Kurz bevor im Oktober vergangenen Jahres die Doppel-CD mit Keith Jarretts “Budapest Concert” bei ECM Records erschien, sorgte ein Artikel der New York Times unter den Fans des Pianisten für helle Aufregung. In einem Gespräch mit Nate Chinen verkündete Jarrett dort seinen wohl endgültigen, krankheitsbedingten Abschied von der Bühne. Die traurige Nachricht dürfte die Nachfrage nach dem Album, das im November gleich auf Platz 1 in die deutschen Jazzcharts einstieg, zusätzlich beflügelt haben. Doch wer den 2019 erschienenen Vorgänger “Munich 2016” erstanden hatte, brauchte sicherlich keine “Extramotivation”. Das Doppelalbum wurde nämlich von der internationalen Presse unisono als eines von Jarretts besten Soloalben überhaupt gefeiert. Und bei derselben Tournee, bei der “Munich 2016” aufgezeichnet worden war, hatte der bestens aufgelegte Jarrett zwei Wochen zuvor in Budapest ein nicht minder brillantes Konzert gegeben, das nun auch auf Doppel-Vinyl erhältlich ist.
“Was da in zwölf Stücken und zwei Zugaben, in 87 Minuten Musik, passiert, fasst den reifen Jarrett zusammen”, schrieb Thomas Klingenmaier am 4. November 2020 in der Stuttgarter Zeitung. “Was er zunächst improvisiert, verzichtet auf Swing als Grundelement des Jazz, auf knappe Liedformen sowieso. Eingegrenzt von Béla Bartóks klassischer Moderne, Cecil Taylors Free-Jazz-Clustern und der harmonischen Zartheit von Bill Evans, liegt das unbekannte Land, das Jarrett als Kartograf einer seltsamen Melancholie voller Brüche, aber ohne Selbstironie Zug um Zug freilegt. Je näher er sich nach und nach an die Jazztradition heran spielt, desto unbesorgter und zufriedener wirkt er. Die Zugaben sind Standards, das letzte Improvisationsstück davor ist ein übermütiger Blues. Was man da erlebt, ist Freispielen im Wortsinn, Errettung durch Musik, der Versuch, Kopf und Bauch für einen Abend in Einklang zu bringen. Jarrett, der lange am Erschöpfungssyndrom litt, lässt spüren, dass Schöpfung und Kollaps für ihn eine Haaresbreite auseinander liegen. Und es geht einem erst so richtig auf, dass Jarrett schon sehr lange genau so gespielt hat, als sei der jeweilige Livemitschnitt der Letzte, als müsse er noch einmal alles ausdrücken, was ihm wichtig ist.”