Man musste auf der Hut sein. Nebenan lauerte der Zar, darauf erpicht, die Autonomie des kleinen Landes an der Westgrenze seines Herrschaftsgebietes zu beschneiden. Man brauchte daher Zeichen, die die Eigenständigkeit und Stärke Finnlands betonten. So wurden Uraufführungen des Nationalkomponisten Jean Sibelius zu großen gesellschaftlichen Ereignissen. Wie etwa am 8. März 1902, als der Meister selbst zum Taktstock griff, um seine eben erst fertig gestellte 2. Sinfonie in Helsinki zu dirigieren.
Jean Sibelius saß zwischen den Stühlen. Zum einen wurden seine Werke von einer Woge der nationalen Sympathie getragen. Er wurde schon in jungen Jahren als großer Mann des Landes geehrt und hatte vom finnischen Staat sogar ein Stipendium auf Lebenszeit erhalten, um sich ganz seiner Musik widmen zu können. Auf der anderen Seite wollte er nicht immer nur patriotisches Pathos bedienen, weil das auf Dauer in die kompositorische Sackgasse führte. So versuchte er immer wieder, Missverständnisse klar zu stellen. “Es herrscht die irrige Ansicht, dass meine Themen oft Volksmelodien seien. Aber bis jetzt habe ich nie ein Thema verwendet, das nicht meine eigene Erfindung gewesen wäre. Meine Sinfonien sind Musik, erdacht und ausgearbeitet als Ausdruck der Musik ohne irgendwelche literarische Grundlage. […] Eine Sinfonie soll zuerst und zuletzt Musik sein”, räsonierte Sibelius über seine Vorstellungen von Gestaltung. Allerdings hielt er sich nicht immer an diese Idee der künstlerischen Absolutheit, denn er schrieb zahlreiche sinfonische Bilder, die wie “Finlanda”, “En Saga” oder “Tapiola” eindeutig auf nationale Symbole seiner Landsleute Bezug nahmen.
So war Sibelius hin- und hergerissen. Mal fand er es berauschend, zum Nationalstolz beitragen zu können, mal fühlte er sich missverstanden, unter Druck gesetzt. Als er im italienischen Rappallo an der Rivieraküste an der Ausarbeitung seiner zweiten Sinfonie arbeitete, war er gerade in einer Phase, möglichst offene Assoziationen zuzulassen. Die Melancholie des Nordens wurde vor allem im ersten Satz durch fröhliche Einwürfe gemildert, insgesamt wirkte das ganze Werk deutlich ausgelassener als die “Kullervo-Sinfonie” oder auch seine erste Sinfonie, die 1892 und 1899 entstanden waren. Der Jubel und die Begeisterung der Menschen war daher vorauszusehen, denn es gelang ihm, mit dem neuen Werk trotz der latenten Bedeutungsschwere der Motive Optimismus zu vermitteln.
Die 2. Sinfonie in D-Dur, Opus 43 gehörte schon bald nach ihrer Uraufführung am 8.März 1902 zum Standardrepertoire großer Orchester und ist bis heute ein wichtiger Bestandteil internationaler Konzertprogramme. Und auch im Katalog berühmter Interpretationen findet sich so manches Schmakerl, das im Laufe der vergangenen Jahre aufgenommen wurde. Mitte der Sechziger zum Beispiel wagten sich mehrere berühmte Dirigenten an eine Neueinspielung: Lorin Maazel schwor 1964 die Wiener Philharmoniker auf den Ernst der Komposition ein und ließ sie dunkle Farben aus den Materialien herausarbeiten. George Szell betonte im folgenden Jahr mit dem Concertgebouw Orchestra wiederum die Eleganz und Transparenz des Zusammenklangs und wirkte wesentlich ausgelassener als sein Kollege. Okku Kamu schließlich setzte auf Dynamik und Motiv-Vielfalt des Werkes und stürtzte sich mit mächtiger Leidenschaft auf die Themen. So gibt es zu Sibelius' 2.Sinfonie eine immense Auswahl hochkarätiger Versionen, die man sich anlässlich des 100jährigen Jubiläums ihrer Uraufführung genemigen kann. Und sollte, denn die Musik ist es wert.