Seit mehr als einem Jahrhundert ist das Publikum dem Schluchzen nah, wenn Mimi in den Armen von Rodolfo ihren letzten Seufzer haucht. Puccinis “La Bohème” gehört zu den erfolgreichsten Opern überhaupt und für Luciano Pavarotti schien lange Zeit die Rolle des armen Poeten und glücklosen Liebhabers Rodolfo geradezu perfekt zu sein.
Es ist auch eine Geschichte von Verdruss und Fehleinschätzungen. Als “La Bohème” im Januar 1896 im Teatro Regio von Turin uraufgeführt wurde, konnte es sich der ortsansässige Kritiker nicht verkneifen, das Werk in aller Form zu zerreißen: “La Bohème macht nicht nur auf das Gemüt der Zuhörer nur geringen Eindruck, sie wird auch in der Geschichte unserer Oper kaum eine Spur hinterlassen. Der Komponist sollte sie als vorübergehenden Fehltritt betrachten und getrost den rechten Weg weitergehen”. Tatsächlich hatte es schon vor der Premiere einige Probleme gegeben. Der größte Hemmschuh war Giacomo Puccini selbst. Denn erfolgreich und unsicher zugleich, schikanierte er seine Librettisten Giuseppe Giacosa und Luigi Illica, die aus der Vorlage Henry Murgers “Scènes de la vie de Bohème” eine Oper zu schnitzen versuchten, bis sie zeitweilig das Handtuch warfen. Immerhin schaffte er es, die Partitur sechs Wochen vor der Uraufführung fertig zu stellen (für Puccini durchaus frühzeitig), wollte aber zunächst nicht in Turin damit an die Öffentlichkeit gehen. Doch er musste nachgeben, darüber hinaus auch noch auf den gewünschten Dirigenten Leopoldo Mugnone verzichten und mit dem jungen Arturo Toscanini Vorlieb nehmen. Außerdem sangen ihm die Sänger nicht gut genug und und und…
Die Oper wurde dann doch noch ein Erfolg, erst in Rom, dann in Neapel, Palermo, Manchester, dem Covent Garden, schließlich in der ganzen Welt. Das lang nicht nur an ihrer geschickt in die Stimmung des Fin-de-Siècle passenden Handlung im scheinbar freien Künstlermilieu, sondern auch an der raffiniert ausgewogenen Musik, die bei allem Schmiss die Waage zwischen Pathos und Rücknahme, Tempo und Verweilen, Humor und Ernsthaftigkeit zu halten verstand. Wahrscheinlich hatte daher auch Herbert von Karajan eine besonderes Gespür dafür, aus dem Aufnahmetermin im Oktober 1972 in der Berliner Jesus-Christus-Kirche ein Ereignis zu machen. Denn für den Meister des musikalischen Ausgleichs war es eine große Aufgabe, zugleich seine Berliner Philharmoniker und gestalterische Charaktere wie Mirella Freni (Mimi), Elisabeth Harwood (Musetta), Rolando Panerai (Marcello) oder Luciano Pavarotti (Rodolfo) im Griff zu haben. Der Tenor aus Modena zum Beispiel, der damals noch keine Stadien, dafür aber Opernhäuser von Mailand bis Australien besang, war nämlich seit seiner Bühnenpremiere 1961 (als Rodolfo bei einem Gesangswettbewerb in den Reggio Emilia) bestens mit Puccinis Melodram vertraut. So galt es Erfahrungen zu bündeln, aufeinander abzustimmen, um das Konzentrat auf Bänder zu bannen. Mit Erfolg, denn noch heute gilt die 1972er Aufnahme als eine der besten, die jemals von “La Bohème” entstanden. “Eines des ganz großen Dirigate Karajans”, meinte der Rezensent der Fachzeitschrift Stereoplay. In jedem Fall eines der vitalsten, wie man noch nach drei Jahrzehnten hören kann.
Die Referenz:
“Referenzaufnahme. Musikalisch und klangich super. Eines der ganz großen Dirigate Karajans” (K. Breh, Stereoplay 9/1987)