Kontrastreicher und eindrucksvoller kann Ludovico Einaudi die Präsentation seiner neuen Werkschau, „Islands“ nicht gestalten als in den Old Vic Tunnels unter der Londoner Waterloo Station. Während das Fern- und Nahverkehrsnadelöhr in der Londoner South Bank rund um die Uhr eine kakofon plärrende Masse Pendler, Reisender und Zubringervehikel ausspuckt, taucht der italienische Komponist und Pianist die darunterliegenden Katakomben in eine Oase der Eufonie. Ein unscheinbares Loch in der einzigen offiziell besprühbaren Londoner Graffitiwand gewährt Einlass in ein Labyrinth aus großen, hohlen Räumen, deren Patina an diesem Abend sorgsam illuminiert in Szene gesetzt wird. Jeder einzelne Raum dient gleichzeitig als Projektionsfläche für in Film getauchte, visuelle Interpretationen jener Einaudi-Kompositionen, die für „Islands“ ausgewählt wurden. Es riecht nach Moder und Feuchtigkeit, die von den hohen Decken tropft. Signore Einaudi zeigt sich begeistert vom sprichwörtlich untergründigen Indie-Charakter der Lokation. „Mit jedem meiner Alben möchte ich eine in sich geschlossene, imaginäre Welt porträtieren. Diese Umgebung hier im Londoner Untergrund ist wie ein Sammelsurium von kleinen Welten, die zusammen genommen ein kleines Universum ergeben.“ Treffender kann er die Analogie zwischen der Nutzung der Old Vic Tunnels am heutigen Abend und „Islands“ nicht artikulieren, bevor er sich an den Steinway-Flügel setzt und Solo-Piano-Versionen von Stücken seiner neuen Kompilation spielt.
Erst zwei Tage zuvor wurde dieses Geheimkonzert bekannt gegeben. Wohlweislich, weil Ludovico Einaudi in der Regel vor 5000 begeisterten Zuhörern ein paar Kilometer weiter südwestlich, in der Royal Albert Hall auftritt, wenn er an der Themse weilt. Kaum mehr als 150 Personen drängen sich heute Abend im intimen Rahmen vor Einaudis Flügel und werden direkter und unmittelbarer als in den prestigeträchtigen Konzerthäusern dieser Welt Zeugen der musikalischen Essenzsuche des Italieners. Sein Tastenanschlag ist sanft, statt muskulär, seine Notengebung ist spartanisch, statt blumig. Gerade deshalb sind seine Kompositionen kraftvolle Appelle an die Essenzen menschlichen Seins. Maximale Intensität durch Minimalismus erreicht Einaudi auf beeindruckende Weise sowohl in den orchestralen wie auch in seinen Solo-Liveversionen von, „The Earth Prelude“, einem der beiden brandneuen Stücke auf „Islands“, die von seinen zeitgenössischen und gleichsam zeitlosen Klassikern wie „Nightbook“ und „Divenire“ gesäumt sind.
Viele kennen seine Musik aus Kino- und TV-Filmen. Zu wenige wissen bislang, dass deren Komponist Ludovico Einaudi heißt. Das dürfte sich mit „Islands“ ändern. Das Album enthält sowohl in der Standard- wie auch in der Doppel-CD-Version sämtliche markanten, charakteristischen Kompositions-„Inseln“ des Musik-Schaffenden, der seiner Kunst gerne Raum zum Atmen lässt. Die Nähe zu Satie ist ihm nicht unangenehm, als ihm zum Ende des einstündigen Programms eine Zuhörerin sagt, dass seine Musik so schön ist, weil sie so simpel treffsicher wirkt. „Wie bei Satie“, sagt sie. Einaudi lächelt. Vermutlich, weil er längst weiß, dass Vergleiche vor allem wohlgemeinte Schmeicheleien für einen, wie ihn sind, der längst sein eigenes musikalisches Idiom geschaffen hat, das Richtung Modernismus weisen darf. Weil er die Musikhistorie studiert und begriffen hat.