Orpheus' Aufgabe ist gewaltig. Er muss als Sänger die Sirenen und Dämonen der Unterwelt soweit betören, dass sie ihn bis zu seiner Frau vorlassen und es ihm ermöglichen, die Geliebte wieder mit zu den Lebenden zu nehmen. Kein Wunder also, dass Christoph Willibald Gluck für die Titelrolle eine Partie schrieb, die lange Jahre als unsingbar galt. Nun wagt sich Marc Minkowski mit seinem Ensemble und dem wunderbaren Richard Croft als Orpheus an eine Aufnahme des eindrucksvollen und komplexen Werkes.
Christoph Willibald Gluck war ebenso produktiv wie umstritten. Von seinen 107 Opern sind zwar nur etwa 50 überliefert, aber die Kontroverse, die er damit anstiftete, hatte weitreichende Folgen für das musikalische Leben. Denn im Anschluss an die Ideen des Librettisten Ranieri de Calzabigi entschloss er sich, die starren Formen der italienischen Oper hinter sich zu lassen. Charaktere sollten nicht mehr nur Typen sein, die nach vorgegebene Mustern funktionierten, sondern Gefühle zeigen und zu tatsächlichen dramatischen Gestalten werden, deren Arien das Geschehen auf der Bühne vorantrieben. Eine der ersten Opern, die er nach dieser Maßgabe gestaltete, war die 1762 in Wien uraufgeführte “Orfeo ed Euridice”. Da gab es tiefe Regungen, die besungen wurden, vom gerührten Zeus über den verzweifelten Orpheus bis hin zu der in verschiedenen Seinsformen (Geist, Geliebte, Halb-Göttin) auftretenden Euridike. Glucks Oper war zunächst für die Alt-Stimme des Countertenors Joseph Legros geschrieben worden, wurde vom Komponisten allerdings in dessen Pariser Zeit für Tenor bearbeitet. Und diese Version erschien Marc Minkowski weitaus homogener und reizvoller als der Wiener Vorläufer, zumal es bislang keine brauchbare Einspielung dieser Variante gab.
Zunächst mussten einige Fragen geklärt werden. Minkowski wollte Richard Croft in der Titelrolle und wartete eine günstige Gelegenheit ab, um ihm die Partitur in die Hand zu drücken. Der versierte Tenor war zum Glück begeistert und so konnten die weiteren Vorbereitungen getroffen werden. Da waren einige grundsätzliche Entscheidungen, wie die über die historisch ideale Stimmung der Instrumente. Minkowski entschied sich für die im Spätbarock übliche Höhe von a'= 400, also rund einen Halbton tiefer, als man es heute gewohnt ist. Damit wurde auch die wegen ihrer Höhen berüchtigte Titelpartie leichter beherrschbar. Außerdem holte er die Sopranistin Mireille Delunsch (Eurydice) und deren erst 18jährige Kollegin Marion Harousseau ins Team. Aufgenommen wurde im Juni 2002 im Theater der Stadt Piossy mit dem Chor und den Instrumentalisten der Musiciens du Louvre. Das Resultat dieser konzentrierten Arbeit ist erstaunlich. Da wird nicht nur ein enorm vitaler und dramatischer Gluck präsentiert, sondern eine Aufnahme, die in Sachen Klang, Interpretation und Gestaltung wenig Wünsche offen lässt. Ob pathetisch-dichte Chorpassegen, aufregend emotionale Solo-Arien oder wild barocke Orchesterintermezzi – “Orphée et Eurydice” wirkt wie ein Grundlagenwerk seiner Epoche in vorbildlicher Einspielung. Wohlmöglich ist Minkowski damit ein Klassiker gelungen.