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Spätes Genie

06.05.2005
Claude Debussy soll einmal ausgerufen haben: “Es lebe Rameau, nieder mit Gluck!” Auch wenn er das nicht wirklich ernst gemeint haben wird, so zeigt es doch die Bedeutung, die dem französischen Barockkomponisten nach Jahrzehnten des Vergessenes beigemessen wurde. Denn Rameau war ein Perfektionist seines Faches, ein von Descartes geprägter Sublimator der Orchestersprache, der den Konventionen des Ausdrucks neue, unerwartete Farben und Schattierungen entlockt hat.
Und er hat erstaunlicherweise nie eine Symphonie geschrieben. Das war ein Fehler, meinte Marc Minkowski, und stellte für sich und seine Musiciens du Louvre ein Orchesterwerk, wie es von Rameau hätte geschaffen worden sein können, aus anderen Quellen zusammen.

Jean-Philippe Rameau (1683–1764) stammte aus Dijon. Sein Vater war Kirchenorganist und er selbst entschloss sich bereits in jungen Jahren, ebenfalls Musiker zu werden. Er brachte es zu beachtlichen Fertigkeiten als Geiger und Organist, war nach der Ausbildung in Mailand über Jahre hinweg in verschiedenen Funktionen in Frankreich musikalisch tätig, sei es als Violinist in Theatergruppen oder als Organist an unterschiedlichen Kirchen. Erst 1722 wurde er in Paris sesshaft und begann, sich systematisch als Musiklehrer, Theoretiker und später auch als Komponist einen Namen zu machen. Die Kulturgeschichte kannte ihn lange Jahre als einen Gegenspieler Jean-Baptiste Lullys im so genannten Opernstreit, einer im Kern albernen, aber mit Vehemenz ausgetragenen Auseinandersetzung um die Modifizierbarkeit des formalen Erbes, das die Blütezeit der Barockoper unter Ludwig XIV hinterlassen hatte. Rameau war dabei durch seine italienische Ausbildung und die zahlreichen freien Engagements einer offeneren Interpretation der strukturellen Vorgaben zugeneigt, was ihm zu Lebzeiten Kritik wie Zustimmung einbrachte. Erstaunlicherweise beließ er es auch vor allem bei Opernkompositionen und verwandten Genres, sieht man von einigen Kammermusikstücken ab. Es sind rund 30 Bühnenwerke erhalten, die inzwischen zum Feinsten und Ausgewogensten zählen, was die späte französische Barockmusik hervorgebracht hat.

Nur Symphonien wollte er offenbar nicht komponieren – und das, obwohl seine Orchestersprache hochdifferenziert mit Farbgebungen und Detailgestaltungen umgehen konnte. Für den Orchesterchef und Rameau-Verehrer Marc Minkowski und sein vielfach preisgekröntes Ensemble Les Musiciens du Louvre war das ein Manko, das es in angemessener Form zu beheben galt: “Einige unserer schönsten, erfülltesten Stunden verdanken wir den Opern Hippolyte et Aricie, Dardanus, Anacréon, Platée und Les Boréades, und umso mehr vermissten wir jene Symphonie, die Rameau nie geschrieben hat. Also haben wir uns vorgestellt, wie sie hätte klingen können. Auf die atemberaubende Ouvertüre der Pastorale Zaïs, eine kurze symphonische Dichtung, die den Anfang der Welt beschreibt, lassen wir Tänze, Zwischenspiele und Divertissements aus den verschiedensten Werken folgen. Hinzu kommt die erschütternde ‘Grabszene’ aus Castor et Pollux und die geradezu Strawinsky’sche Einleitung zum letzten Akt der Boréades – zwei Stücke, bei denen wir einfach den Vokalpart weggelassen haben – sowie eine neue Orchestrierung des Cembalostücks La Poule, das für die sechs Concerts en Sextuor schon einmal orchestriert worden ist”. Das Experiment war gewagt, aber es ist gelungen, denn ein Fachkenner wie Minkowski versteht sich ausgezeichnet auf die passende Dramaturgie des Ablaufs und die nötigen Schattierungen des Ausdrucks. Aufgenommen im Surround-Format für SACD, aber auch an herkömmliche CD-Spielern abspielbar, ist auf diese Weise mit der Symphonie Imaginaire ein neues Schmuckstück der barocken Orchesterliteratur entstanden, das französisch frech sich über die Grenzen der üblichen Rameau-Rezeption hinwegsetzt.

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