Kaum etwas ist spannender, als wenn unterschiedlichste Welten zueinanderfinden und Grenzen mit Kunst überwunden werden. Besonders eindrucksvoll ist dies zu erleben bei der armenischen Komponistin und Pianistin Marie Awadis, die klassische Musik mit der Folklore ihrer Heimat verbindet und Werke von spiritueller Schönheit entstehen lässt. Nun ist beim gelben Label sowohl digital als auch auf CD das Debutalbum der außergewöhnlichen Künstlerin erschienen, das unter dem Titel “Études Mélodiques” zwölf Stücke der Tonschöpferin vereint.
Marie Awadis: eine beeindruckende Künstlerpersönlichkeit
Die Biografie von Marie Awadis und ihren Vorfahren ist geprägt von der Frage nach Heimat und der Sehnsucht nach Frieden. 1915 flohen ihre Großeltern vor dem Völkermord an den Armeniern nach Syrien, ihr Vater zog später in den Libanon und baute sich dort in der armenischen Diaspora ein Leben auf. Als Kind lernte Marie Awadis in einer armenischen Schule die Sprache und Kultur ihrer Heimat kennen und bald schon begeisterte sie sich für Musik. Im Alter von nur fünf Jahren stand sie zum ersten Mal auf der Bühne und sang in der Folkband ihres Vaters, mit acht Jahren begann sie, Klavierunterricht zu nehmen. In den folgenden Jahren lag ihr Fokus zwar auf dem klassischen Repertoire von Bach bis Rachmaninow, gleichzeitig aber beschäftigte sie sich mit Jazz und Weltmusik, die in den folgenden Jahren stark ihren Kompositionsstil beeinflussten. Nach ihrem Abschluss im Fach Klavier an der nationalen Musikhochschule in Beirut und einer dreijährigen Lehrtätigkeit am Konservatorium zog Awadis schließlich nach Hannover, um ein Aufbaustudium an der dortigen Hochschule für Musik und Theater zu absolvieren. Die Klänge ihrer Heimat aber nahm sie mit – als Pianistin ebenso wie als Komponistin.
Geschichtenerzählerin am Klavier
Die Musik war für Awadis schon immer ein Raum, in dem sie sich mit ihren Emotionen sicher gefühlt hat und schon früh begann sie, auch selbst Stücke zu komponieren. Bereits in der Übergangsphase zwischen Konzerttätigkeit und Komponieren schrieb sie Stücke für Klavier solo sowie Cello und Klavier, es folgten Kompositionen für Streichquartett und andere Kammerensembles, außerdem Chorwerke. Dabei ist es bis heute ihr erklärtes Ziel, neue Wege zu gehen und zugleich die eigenen, höchst unterschiedlichen kulturellen Erfahrungen zu verarbeiten. Die Werke, die so entstehen, sind ausgesprochen authentisch und persönlich und spiegeln die armenische, libanesische und deutsche Kultur gleichermaßen wider, wobei klassische Motive auf traditionelle Folk-Elemente treffen und sich zu einzigartigen neuen Klangwelten verbinden.
Chopin trifft auf Minimal-Music und Folklore
Das Klavier war für Marie Awadis schon immer der Ausgangspunkt ihres musikalischen Schaffens. Von daher lag es auf der Hand, dass sie auf ihrem ersten Album bei Deutsche Grammophon ausschließlich Kompositionen für Klavier solo präsentiert, welche ihre Tonsprache und ihre grenzüberschreitende Kunst eindrucksvoll demonstrieren. Dabei finden sich in den 12 Werken die Einflüsse von Frédéric Chopin ebenso wie minimalistische Strukturen und armenische Folklore und fließen klassische und zeitgenössische Welten schlüssig ineinander. “Für mich ist alles, wie es sein sollte, wenn sich beim Komponieren mein eigener intuitiver Ansatz mit der rhythmischen Präzision des amerikanischen Minimalismus, der Spiritualität seines europäischen Pendants und den Gefühlen der armenischen Musik verbindet. Denn das bin ich – ich bin ein armenisch-libanesisch-deutsches Gewächs”, sagt Marie Awadis.
Zart, intim und lebensbejahend
Das Debutalbum von Marie Awadis gleicht einem vielschichtigen musikalischen Porträt der Künstlerin, bei dem die ganz unterschiedlichen Prägungen und Einflüsse zu einem harmonischen Ganzen verschmelzen. Die einzelnen Klavierstücke faszinieren dabei als intime und elegante Kleinode mit zartem Grundton, die von Awadis an den Tasten feinsinnig ausgedeutet werden. “Wir alle sollten an unseren Träumen festhalten, selbst wenn das Leben schwer ist”, ist Awadis überzeugt. Ihre Musik spiegelt diese lebensbejahende Grundhaltung eindrucksvoll wider.