Knapp zwanzig Jahre ist es her, da nahm Maurizio Pollini ein Album auf, das binnen kürzester Zeit den Rang eines Klassikers erlangte: “Préludes I”. Der große Chopin-Interpret hatte sich damit in Gefilde vorgewagt, in denen man ihn sonst nicht antrifft. War er der Richtige für Debussy? Galt er nicht als eingefleischter Romantiker, gut für Schumann, Liszt oder Chopin?
Romantisches Lebensgefühl: Maurizio Pollini
Damals spielte Pollini den ersten Teil von Debussys wilden Préludes, und wer das hörte, der verstand sofort, dass seine romantischen Neigungen ihn nicht daran hinderten, sondern eher dazu prädestinierten, den französischen Impressionisten zu interpretieren. Debussy war ein Chopin-Verehrer. Ihm wehte noch der romantische Atem des 19. Jahrhunderts nach.
Geboren im Jahre 1862, in einer kleinen Stadt im westlichen Einzugsgebiet von Paris, war er ein Zeitgenosse von Brahms und Tschaikowsky, die freilich einer älteren Generation angehörten und Ende der 1890er Jahren starben. Debussy war kein Revolutionär. Er stieß langsam in die Moderne vor, und diesen Grenzgang, diesen Aufenthalt zwischen zwei Welten vermag Pollini sensibel nachzuvollziehen.
Einerseits modern und offen für neuere Entwicklungen, würde der italienische Pianist in den Pariser Salons des 19. Jahrhunderts wohl auch eine gute Figur abgeben. Mit seinem eleganten Auftritt, seiner weltgewandten Art passt er dort jedenfalls genauso hin wie in unsere Zeit, deren Herausforderungen er sich stellt. Pollini blickt nicht nostalgisch in die Romantik zurück, sondern verlebendigt ihr Lebensgefühl, modernisiert es.
Meilenstein der Moderne: Debussys Préludes II
Dabei ist Debussy ein ideales Vehikel für ihn, schwingt doch in den farbintensiven Harmonien und abwechslungsreichen Rhythmen des großen Franzosen die Entdeckungslust, das romantische Fernweh stets mit. Pollinis sehnsuchtsvolle Interpretation der Préludes I brachte dies eindrucksvoll zur Geltung. Mit den Préludes II geht er jetzt in Sachen Modernität, Experimentierfreude und Klangekstatik noch einen Schritt weiter.
Der flirrende und zugleich glasklare Ton auf dem Album ist elektrisierend. Man versteht jetzt, was Puccini meinte, als er Debussy als einen Mann der Zukunft charakterisierte. Die sanften Wellenbewegungen der Préludes I weichen einer kantigeren, entschlosseneren Klangsprache, die weit hinein in unsere Zeit reicht. Im zweiten Buch zeige sich, so Pollini selbst, die “ungeheure Modernität, die Debussys Spätwerk auszeichnet”.
Einerseits sind da urbane Klänge, die an Kaffeehausmusik erinnern, so in “Bruyères”, das dem Namen nach von einer Naturbeobachtung inspiriert ist. Andererseits klingen dunkle, sehnsuchtsgetriebene Motive an, wie in “La Puerta del Vino”, das in leidenschaftlicher Wildheit von Debussys Liebe zu Spanien zeugt. Wie ein Cakewalk mutet dagegen “Général Lavine” an, dem Pollini eine absolut coole, gekonnt swingende Gestalt verleiht.
Heftige Kontraste: En blanc et noir
Von größerer Dramatik ist “En blanc et noir”, eine überwältigende Suite für zwei Klaviere, die Maurizio Pollini zusätzlich zu den Préludes II in sein neues Album aufgenommen hat. Er hat das Werk mit seinem Sohn Daniele eingespielt, mit dem er die ein oder andere virtuose Kapriole schlägt. Vor allem berührt hier aber, wie Vater und Sohn emotional zueinander finden und ein hochgespanntes, melancholisch temperiertes Meisterwerk der Moderne gemeinsam bergen. Ein großartiger Schlussakkord eines großartigen Albums.