“VOICES” von Max Richter stand von Beginn an unter einem guten Stern. Das Werk umgab bereits eine “prophetische Aura” (Gramophone), als es im Februar vorigen Jahres im Londoner Kulturzentrum Barbican uraufgeführt wurde. Als dann im Sommer 2020 das Album folgte, verfestigte sich der Eindruck, dass Max Richter wieder einmal einen besonderen Ton getroffen und ein brennendes Problem der Gegenwart ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt hatte. Fünf Jahre nach “Sleep”, das den wohltuenden Wirkungen des Schlafes im Zeitalter digitaler Betriebsamkeit gewidmet war, präsentierte der Komponist mit “VOICES” ein künstlerisches Bollwerk gegen Rassismus, Rechtspopulismus und die grassierende Gewalt in der Welt.
Um an die Würde jedes einzelnen Individuums zu gemahnen, rief er die “Allgemeine Erklärung der Menschenrechte” von 1948 in Erinnerung. Das berühmte UNO-Manifest schillerte in VOICES, untermalt von den berühmten Ambient-Sounds und charakteristischen Klangtexturen des Komponisten, in einer farbenreichen Mixtur aus unterschiedlichen Stimmen, angefangen mit Eleanor Roosevelt, die in einer Aufnahme von 1949 mit Passagen aus dem Manifest zu erleben war, über eine globale Gemeinschaft von 70 Stimmen bis hin zu der US-amerikanischen Schauspielerin Kiki Layne, die dem Text mit ihrem erfrischenden Vortrag eine hoffnungsfreudige Note verlieh.
Richters Idee, mit musikalischen Mitteln einen Denkprozess über die Menschenrechte anzustoßen, stieß bei Publikum und Kritik auf ungeteilte Begeisterung. Jetzt veröffentlicht der Komponist den zweiten Teil seines ambitionierten Projekts.
Positive Grundstimmung
“
VOICES 2”, das ohne Text auskommt und sich ausschließlich auf Instrumentalmusik und Gesangsstimmen konzentriert, knüpft unmittelbar an “VOICES” an. Während im ersten Teil des Projekts das visionäre UNO-Manifest im Vordergrund stand, sucht der zweite Teil Räume der Meditation zu öffnen. Entscheidendes Bindeglied der beiden Alben ist “Mercy”, ein Instrumentalstück für Klavier und Violine, das der Komponist gemeinsam mit der norwegischen Geigerin
Mari Samuelsen aufgenommen hat. Das Stück, entstanden als Auseinandersetzung mit der Folterung von Gefangenen auf Guantánamo Bay, ist von lyrischer Zartheit. Es atmet den Geist des Mitgefühls, nach Max Richter die wichtigste emotionale Ressource auf dem Weg hin zu einer besseren Welt.
Wie stark das Vertrauen ist, das der Komponist in Gefühle setzt, zeichnet sich bereits im ersten Stück von “VOICES 2” ab. “Psychogeography” wagt einen Blick ins Innere der Seele. Der sphärische Chorgesang und die vom Cello behutsam angestimmte Melodie verströmen eine ebenso verletzliche wie erwartungsvolle Stimmung.
Die Musik für Klavier solo, die Richter während des Lockdowns im gespenstisch leeren Studio 1 der Abbey Road aufnahm, changiert auf dem Album zwischen nachdenklicher und zuversichtlicher Stimmung. Grundsätzlich tritt in “VOICES 2” die Melancholie der verpassten Chancen in den Hintergrund und Hoffnung auf das Potenzial einer noch ungeschriebenen Zukunft greift Raum, wenn wir sie wählen. Am berührendsten vielleicht in “Mirrors”, einem Stück für Klavier solo, in dem zarte Keime der Zuversicht sprießen. Yulia Mahr, Richters langjährige kreative Partnerin auf dem Feld des Films und der bildenden Kunst, hat dieser hoffnungsvollen Vision in ihrem ergreifenden Video zu “Mirrors” eindrucksvoll filmische Gestalt verliehen.