Dass die britische Orchestermusik des 20. Jahrhunderts einen eigenen Ton hat, konnte die litauische Dirigentin
Mirga Gražinytė-Tyla mit den beiden e-Alben ihres “
British Project” bereits eindrucksvoll unter Beweis stellen. 2020 erschien der erste Teil des mit dem
City of Birmingham Symphony Orchestra realisierten Vorhabens, das sich in bislang einzigartiger Weise dem besonderen Weg britischer Komponisten in die musikalische Moderne widmete. Mit der 1941 in New York uraufgeführten “Sinfonia da Requiem” von
Benjamin Britten ließ Gražinytė-Tyla einen wichtigen Vorläufer des berühmten “War Requiem” erklingen. Die dreisätzige Sinfonie des britischen Komponisten bringt die düstere Stimmung während der Zeit des Zweiten Weltkriegs zum Ausdruck. Für Gražinytė-Tyla eine Musik mit politischem Ausrufezeichen, eine "Warnung vor Aggression und Hass“.
Fesselndes Werk von William Walton
Das im Frühjahr erschienene zweite e-Album von "The British Project“ rief ein fesselndes Werk der britischen Bühnenmusik in Erinnerung, das ohne das Engagement von Gražinytė-Tyla dem Vergessen anheimzufallen drohte: William Waltons Oper "Troilus and Cressida“, die der Arrangeur Christopher Francis Palmer zu einer reizvollen Orchestersuite umarbeitete. Palmer schloss eng an die Oper an, deren musikalische Höhepunkte er abzubilden versuchte. Gražinytė-Tyla, die davon träumt, die ganze Oper zu dirigieren, gemahnte mit ihrer hochgespannten Interpretation von Palmers Suite an die enormen Fähigkeiten von William Walton, der mit seiner kontrastreichen, die Extreme auslotenden Orchestermusik einen ganz eigenen Klangkosmos schuf.
Der britische Ton
Nach den beiden e-Alben kommt jetzt sowohl auf CD als auch in digitaler Gestalt eine neue Ausgabe von "The British Project“ in den Handel. Das Album enthält neben den erwähnten Arbeiten von Benjamin Britten und Christopher Palmer zwei schillernde Orchesterwerke von
Edward Elgar und
Ralph Vaughan Williams. Elgar und Williams gelten als Repräsentanten der britischen Spätromantik. Doch wenn man ihre Musik im Kontext von Brittens "Sinfonia da Requiem“ und Palmers Orchestersuite hört, dann rückt fast unweigerlich ihre Modernität ins Blickfeld. Elgars "Sospiri“ (1914), ein Adagio für Streichorchester, Harfe und Orgel, besitzt in seiner klanglichen Weiträumigkeit fast filmische Dimensionen, und Vaughan Williams kann mit seinen gewagten Harmonien in der "Tallis Fantasia“ (1910) als Mitschöpfer des Impressionismus gelten.
Beeindruckend ist die innere Geschlossenheit des Albums. Bei aller stilistischen Diversität der Komponisten vermeint man doch so etwas wie einen britischen Ton zu vernehmen: eine vornehme, nachdenkliche, immer offenherzige Atmosphäre. Das ist sicher auch dem City of Birmingham Symphony Orchestra zu verdanken, das zu Lebzeiten der Komponisten in engem Austausch mit ihnen stand und mit dem Repertoire daher urvertraut ist.
Man darf auf die Wirkung gespannt sein, wenn Mirga Gražinytė-Tyla am 18. Juli 2021 die Salzburger Festspiele mit Brittens opulentem "War Requiem“ eröffnet.