Mirga Gražinytė-Tyla | News | Mirga Gražinytė-Tyla dirigiert The Passenger, die erste Oper von Mieczysław Weinberg

Mirga Gražinytė-Tyla dirigiert The Passenger, die erste Oper von Mieczysław Weinberg

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© Javier del Real Fernández
24.01.2025
Ein Livemitschnitt der gefeierten Madrider Aufführung im März 2024
Mit dem Chor und Orchester des Teatro Real sowie
Amanda Majeski, Daveda Karanas, Nikolai Schukoff und Gyula Orendt
The Passenger erscheint am 24. Januar 2025 digital
Erleben Sie die Oper auf STAGE+
»Mirga Gražinytė-Tyla erfasst überzeugend alle emotionalen, melodischen und
klanglichen Herausforderungen eines Werkes, das einige der schwierigsten Aspekte
menschlicher Erfahrung geistvoll und furchtlos erforscht.«
Bachtrack über die Produktion des Teatro Real 2024

Sie ist eine Botschafterin seiner Musik. Nur wenige Dirigent:innen haben sich so mit der Musik von Mieczysław Weinberg (1919–96) auseinandergesetzt wie Mirga Gražinytė-Tyla. Nach hochgelobten Einspielungen einiger seiner bedeutendsten Orchesterwerke veröffentlicht sie nun bei Deutsche Grammophon die erste der sieben Opern des jüdisch-polnischen Komponisten, The Passenger. Die »erschütternde Holocaust-Oper« (The Critic) wurde im Frühjahr 2024 im Teatro Real in Madrid von ihr dirigiert, als Wiederaufnahme der Weltpremiere, in der der Weinberg-Kenner David Pountney Regie führte.

Bei ihrem Operndebüt in Madrid steht Gražinytė-Tyla am Pult von Orchester und Chor des Teatro Real. Zu erleben sind außerdem die Sopranistin Amanda Majeski (Marta), die Mezzosopranistin Daveda Karanas (Lisa), der Tenor Nikolai Schukoff (Walter) und der Bariton Gyula Orendt (Tadeusz). Der Geiger Stephen Waarts spiegelt instrumental die Partie des Tadeusz. Der Mitschnitt der Produktion ist ab sofort auf STAGE+ zu sehen. Das Album erscheint digital am 24. Januar 2025, drei Tage vor dem Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust; am 27. Januar 1945 hatten die sowjetischen Streitkräfte das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit.

Weinberg kam 1919 in Warschau zur Welt und floh 1939 vor den Nationalsozialisten in die Sowjetunion. Erst 1966 sollte er erfahren, dass seine Familie während des Zweiten Weltkriegs in einem Konzentrationslager umgekommen war. Ein Jahr später begann er mit der Arbeit an The Passenger. Alexander Medwedew schrieb das Libretto zum Werk. Es basiert auf dem gleichnamigen Roman der polnischen Schriftstellerin Zofia Posmysz, einer Auschwitz-Überlebenden. Weinbergs langjähriger Freund Schostakowitsch hatte den Komponisten auf das Buch aufmerksam gemacht. 
Weinberg vollendete die Oper 1968, doch alle Versuche, sie zu seinen Lebzeiten auf die Bühne zu bringen, wurden von den sowjetischen Behörden vereitelt. Auf eine halbszenische Aufführung in Moskau 2006 folgte vier Jahre später David Pountneys Welterstdarbietung bei den Bregenzer Festspielen. »Ein Werk von konzentrierter Kraft, das die meisten anderen Unterfangen, den Holocaust dramaturgisch zu fassen, in den Schatten stellt«, urteilte Alex Ross im New Yorker, als The Passenger auf DVD erschien.
Die Handlung der Oper wechselt zwischen zwei Schauplätzen, dem Deck eines Ozeandampfers auf der Überfahrt von Europa nach Brasilien in den frühen 1960er-Jahren und dem Konzentrationslager Auschwitz. An Bord des Schiffes glaubt Lisa, Frau des deutschen Diplomaten Walter, eine Frau wiederzuerkennen, die sie für tot hielt. Es ist die titelgebende »Passagierin«, Marta, einst Häftling in Auschwitz, wo Lisa SS-Aufseherin war. Lisas verschwiegene Vergangenheit holt sie nun ein und gerät zum Konflikt zwischen ihr und ihrem Mann. In Rückblenden werden zugleich die Gräuel des Lagers geschildert sowie das tragische Schicksal der Liebe von Marta und dem Geiger Tadeusz. 
Das Publikum seinerseits bleibt im Unklaren, ob es sich bei der Passagierin wirklich um Marta handelt, Ambiguität durchzieht die Oper. So ist Lisa beispielsweise kein eindeutig schlechter Mensch – zwar übernimmt sie keine Verantwortung für ihre Taten, doch das Geschehene verfolgt sie. Weinbergs Musik greift die Komplexität des Stoffes auf, leise, fast meditative Momente werden durchbrochen von drastischen, dramatischen Höhepunkten, mal porträtiert sie die reichen Passagiere an Bord, mal die vielen Nationalitäten der in Auschwitz Inhaftierten. Und mitunter ist sie kaum zu hören, wie David Pountney anmerkt, dann lässt der Komponist die Emotionen für sich sprechen in diesem Werk über Schuld, Trauma und Erinnerung. 
Mirga Gražinytė-Tyla begann ihre Karriere bei Deutsche Grammophon 2019 mit Einspielungen von Weinbergs Symphonien Nr. 2 und 21 und ergänzte ihre Diskografie 2022 mit seinen Symphonien Nr. 3 und 7 sowie seinem Flötenkonzert Nr. 1. Ihre Alben haben maßgeblich zur Rezeption von Weinberg beigetragen. Und auch in Aufführungen machte die Dirigentin ein großes Publikum mit seiner Musik vertraut, nicht nur mit The Passenger, sondern auch in einer Neuproduktion bei den Salzburger Festspielen mit seiner letzten, von Dostojewski inspirierten Oper Der Idiot (ebenfalls auf STAGE+ zu sehen). In der kommenden Saison steht Weinbergs Fünfte Symphonie mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra in der Heimatstadt des Klangkörpers auf ihrem Programm (11. Juni 2025).