Menschliche Abgründe sind ein dramatisches Elixier. Und wer würde bestreiten, dass die Erotik ein Wörtchen mitzureden hat, wenn es um die dunklen Neigungen menschlicher Wesen geht.
Unvollendetes Meisterwerk: Alban Bergs “Lulu”
Alban Berg besaß ein feines Gespür für das dramatische Potential der Erotik, und er schuf mit seiner Oper Lulu ein Werk, das in seiner mitreißenden Dramatik und tiefsinnigen Deutung der menschlichen Verhältnisse zu den reizvollsten Bühnenschöpfungen des 20. Jahrhunderts zählt. Dabei waren die Verbreitungsbedingungen der Oper nicht eben gut. Das Werk blieb unvollendet, und weder Arnold Schönberg noch Anton Webern und Alexander Zemlinsky wollten das Fragment eigenmächtig zu Ende führen, so sehr sich die Ehefrau des Komponisten, Helene Berg, dies auch wünschte. Die Uraufführung des Fragments am Stadttheater Zürich im Jahr 1937 wurde dann jedoch ein überwältigender Erfolg, und Helene Berg untersagte fortan jede Vollendung der Oper. Sie war zu der Überzeugung gelangt, dass das Werk auch als Torso seine volle Wirkung entfaltet.
Colemans Ehrlichkeit
Es dauerte bis zum Jahre 1979, als die Oper erstmals in vollendeter Gestalt auf die Bühne kam. Das war an der Pariser Opéra Garnier, wo die instrumentierte Fassung des österreichischen Komponisten Friedrich Cerha von Pierre Boulez und Patrice Chéreau uraufgeführt wurde. Seither scheint die Faszination, die Oper neu zu bearbeiten, ungebrochen, und nach Eberhard Klokes Versionen aus den Jahren 2007/2008 und 2012 liegt jetzt mit David Robert Colemans Berliner Version eine weitere Neu-Instrumentierung vor. Mit ihr hat Andrea Breth in ihrer soeben auf DVD erschienenen Inszenierung gearbeitet. Coleman verbirgt in seiner Version nicht die fremde Aneignung des Materials. Er verwendet Harmonium, Akkordeon, Marimbaphon und Steel Drums und demonstriert damit in aller Offenheit seine selbständige Fortführung der Musik. Andrea Breth folgt ihm in dieser ehrlichen Haltung: Sie streicht das Paris-Bild aus dem dritten Akt und gibt der Oper, die in der Figur Lulus um ewige Verführung und Lust kreist, eine psychologische Deutung.
Erotische Dramatik
Man hat das Gefühl, das Innenleben der erotischen Welt vorgeführt zu bekommen. So als blicke man durch die Körper der handelnden Figuren hindurch in den Seelengrund der Triebe. Diese Transparenz verleiht dem Stoff eine elektrisierend moderne Note, zu der nicht zuletzt das imponierende Bühnenbild Erich Wonders beiträgt: eine Art Lagerhalle, die mit ihren Gerüsten und Autowracks das dunkle Faszinosum der Erotik zu symbolisieren scheint. Bei Berg ist Lulu der Inbegriff einer unwiderstehlichen Frau, der alle Männer verfallen.
Der Komponist ließ sich in seinem Libretto von Frank Wedekinds Tragödien Erdgeist und Die Büchse der Pandora leiten. Dort wird Lulu als die “Urgestalt des Weibes” (Wedekind) vorgeführt, ein erotisches Naturtalent, das seine Überlegenheit voll auskostet und einen Mann nach dem anderen verbrennt. Bis sie schließlich als Prostituierte auf der Flucht, sie hatte ihren Ehemann Dr. Schön erschossen, in London von Jack the Ripper umgebracht wird. Andrea Breth betont das Spiel der Geschlechter. Bei ihr sind beide Geschlechter am erotischen Geschehen beteiligt: Lulu als erotischer Anziehungspunkt und die Männer als Träumer, die all ihre Phantasien in sie hineinlegen.
Lust am Abgrund
So entsteht eine Dramatik, die sich vor allem der unentwirrbaren Verwobenheit der Figuren verdankt. Hier ist keiner schuld. Hier sind alle miteinander verbunden. Jeder steht am Abgrund. Jeder folgt seiner Lust. Und am Ende bleibt bei aller Durchsichtigkeit des Stoffes das unauflösliche Geheimnis des Erotischen. Dass dieser gewaltige Stoff in der Darstellung gelingt, ist nicht zuletzt Sopranistin Mojca Erdmann zu verdanken, die mit ihrer elastischen Stimme eine unwiderstehlich leichte Lulu singt. Umgarnt wird sie u.a. von Tenor Stephan Rügamer (Maler) und den beiden Baritonen Michael Volle (Dr. Schön) und Georg Nigl (Athlet), die in nicht minder überzeugender musikalischer Qualität die vielfältigen Gestalten der begehrenden Männerwelt repräsentieren. Orchestral ist die Aufführung, wie der Deutschlandfunk urteilt, ohnehin “grandios. Barenboim disponiert im Graben die Staatskapelle äußerst differenziert.” So kommt die Musik von Alban Berg in ihrer harmonischen Raffinesse und expressiven Vitalität glänzend zur Geltung. Kurz: Moderne Oper vom Feinsten!