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Brasilianische Seele und universeller Geist – Nelson Freire spielt Villa-Lobos und Freunde

Nelson Freire
© Eric Dahan
08.08.2012
Heitor Villa-Lobos gilt weltweit als größter und einflussreichster Komponist Brasiliens. Er war ein äußerst produktiver Künstler, der Werke nahezu jeder Gattung hervorbrachte, von Übungsstücken für das Klavier über Symphonien bis hin zu großen dramatischen Werken und Filmmusik. Villa-Lobos, der als Komponist keine formale akademische Ausbildung in Anspruch genommen hatte, entwickelte einen faszinierenden Individualstil, der aus einem autodidaktischen Studium vielfältiger Quellen und der scheinbar mühelosen Zusammenführung gegensätzlicher Einflüsse resultierte. Seine bedeutendsten Werke weisen über den exotischen Reiz des Folkloristischen – eine zentrale Inspirationsquelle des Komponisten – weit hinaus. Die Musik Heitor Villa-Lobos’ entfaltet dadurch universelle Anziehungskraft und bleibt doch stets das Werk eines brasilianischen Künstlers. Auch sein Engagement für eine musikalische Ausbildung über gesellschaftliche Schranken hinweg hat bleibende Spuren in der klassischen Musiklandschaft Brasiliens hinterlassen.

Leitfigur der brasilianischen Komponistenzunft

Als nationale Lichtgestalt und zentrale Leitfigur für die ihm nachfolgenden Komponistengenerationen Brasiliens steht Heitor Villa-Lobos im Zentrum der vorliegenden Anthologie brasilianischer Klaviermusik des 20. Jahrhunderts, die Nelson Freire eingespielt hat. Neben einer Auswahl von Soloklavierwerken Villa-Lobos’ stellt der brasilianische Meisterpianist und Exklusiv-Künstler im Hause Decca auf seiner jüngsten Aufnahme  “Brasileiro” eine repräsentative Auswahl international weniger bekannter Werke von Villa-Lobos’ Vorgängern Alexandre Levy und Henrique Oswald, dem Zeitgenossen Oscar Lorenzo Fernández sowie der ihm nachfolgenden Komponisten Carmago Guarneri, Joaquim Antônio Barrozo Netto, Francisco Mignone und Claudio Santoro vor. Das Repertoire, komponiert von drei Musikergenerationen, die an der Schaffung einer authentischen brasilianischen Kunstmusik arbeite(te)n, ist in seiner Qualität, seinem Farbenreichtum, seinem rhythmischen Erfindungsreichtum und seinem tiefen Verständnis für die technischen Besonderheiten und die Ausdrucksmöglichkeiten des Klaviers in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit dem musikalischen Erbe der spanischen Komponisten von Isaac Albéniz bis Federico Mompou.

Wertvolle Anthologie und persönliches Dokument

Nelson Freire wird in Brasilien ebenfalls längst als nationale Ikone verehrt. Mit seinem neuen Album gibt er nicht nur einen wertvollen Einblick in die außerhalb Brasiliens teils selten gehörte klassische Klavierliteratur seiner Heimat. “Brasileiro” ist auch ein sehr persönliches Album voller Kindheits- und Jugenderinnerungen. So beeindruckte das einstige Wunderkind seine Lehrer etwa mit Nettos “Minha Terra”, Levys “Tango Brasileiro”, Oswalds “Valse lente” und dem betörenden “A Lenda do Caboclo” von Villa-Lobos. Und der junge Student meisterte virtuose Stücke wie Santoros Toccata und Fernández' Três Estudos em Forma de Sonatina. Zu den Höhepunkten Freires wundervoller Aufnahme gehören sieben Klavierminiaturen aus dem Zyklus “Carnaval das Crianças”, die – wie so oft bei Villa-Lobos und ähnlich wie bei Schumann – ihre Inspiration aus der kindlichen Vorstellungswelt beziehen. Mit “New York Skyline” hingegen gibt Freire ein eindrucksvolles Beispiel für die Experimentierfreude Villa-Lobos’: Angeregt von den avantgardistischen Klangentwürfen Edgar Varèses zeichnet der Tonhöhenverlauf dieser Komposition die Kontur der Skyline New Yorks nach. Das Ergebnis, ein faszinierendes Klavierstück voll halb unterdrückter nervöser Anspannung und leiser Melancholie, reflektiert die brodelnde Atmosphäre des “Concrete Jungle” und die drohende Vereinsamung ihrer Einwohner.

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