Rein äußerlich betrachtet war es der 70. Geburtstag, der ihm 2014 eine enorme öffentliche Aufmerksamkeit bescherte. Der Jubilar spielte noch einmal die Schlüsselwerke seines romantischen Repertoires, mit denen er in den 1960er und 70er Jahren zu einem der größten Pianisten Lateinamerikas avanciert war.
Zweite Geburt
Von Nostalgie war indes wenig zu spüren. Im Gegenteil: Nelson Freire versprühte eine Energie und Lust, dass man den Eindruck gewinnen konnte, seine Laufbahn habe gerade erst begonnen. Die Früchte seiner Auftritte sprechen Bände. Es sind Aufnahmen von allerhöchster musikalischer Qualität, und das lässt nur den einen Schluss zu: Der Mann will es noch einmal wissen. Er verfolgt eine pianistische Mission, und so merkt man den neueren Aufnahmen sein charakteristisches Spiel zwar durchaus noch an, zugleich vernimmt man aber auch kühne Gewichtsverlagerungen: eine hinreißende Intimität, ein poetisches Pathos ohnegleichen und eine furiose Modernität.
Zarte Beziehung
In Chopins zweitem Klavierkonzert, das so sehr vom Liebesverlangen des blutjungen Komponisten durchwirkt ist, kann man diese neue Mischung in Freires Spiel jetzt bewundern. Was dem Pianisten hier gelingt, ist die Quadratur des Kreises. So spielt er das Konzert zwar durchaus kräftig. Sein Chopin klang ja schon in jungen Jahren nie übermäßig labil. Andererseits spürt man sofort, wie zart und innig seine Beziehung zu diesem gefühlvollen Frühwerk Chopins ist. “Ich habe”, bekennt Freire, “das 1. Konzert in den 60er und 70er Jahren gespielt, doch irgendwie habe ich eine viel tiefere Beziehung zum zweiten. Ich bin gerade von diesem Konzert immer besonders berührt.” Dabei scheint es, als könne er dieser Berührtheit im Alter noch viel stärker nachgeben als in jungen Jahren.
Improvisatorischer Stil
Das Gürzenich-Orchester unter der Leitung von Lionel Bringuier bietet dem Solisten dafür viel Raum und einen überaus weichen Klangteppich, auf dem sich der beherzte Brasilianer gerne bewegt. Dazu muss man wissen, dass Nelson Freire von Kindesbeinen an die Improvisation geliebt hat und viel Freiheit für sein Spiel braucht. Er hat auf dem Klavier stets etwas ausprobiert und entdeckt die romantische Literatur immer wieder von neuem. Auch auskomponierte Werke atmen bei ihm den Geist des freien, improvisierten Spiels. Wenn Freire Chopin spielt, dann kommt es einem so vor, als ob Chopin selbst ans Klavier tritt und zu fantasieren beginnt.
Lyrisch und kräftig
Der Eindruck eines äußerst freien Spiels entsteht aber nicht nur bei dem Klavierkonzert, sondern auch bei den brillanten Solo-Werken Chopins, die das neue Album von Nelson Freire zieren. Hier kann der Pianist ungehemmt seinem Eigensinn frönen, und so begibt er sich kindlich-naiv in die Berceuse in Des-Dur hinein. In der Polonaise in As-Dur demonstriert er seine ungebrochene pianistische Kraft, während er in der Ballade Nr. 4 in f-Moll, wie schon im zweiten Klavierkonzert, seine Gabe als poetischer Schwärmer und Meister heftiger Kontraste unter Beweis stellt. Die drei Mazurkas und das Impromptu in Ges-Dur Op. 51 lassen ihn dann noch einmal als verspielten Improvisationskünstler zur Geltung kommen. Was Freire auf seinem neuen Album bietet, ist überwältigend, und man setzt nicht zu hoch an, wenn man in den nächsten Jahren noch weitere Meistereinspielungen von ihm erwartet.