Es ist schwer zu sagen, was ein junger
Komponist heutzutage mitbringen muss, um sich im Haifischbecken der internationalen Konkurrenz nicht nur zu behaupten, sondern darüber hinaus auch noch als neue Kraft aufzufallen. Natürlich gehören technische und gestalterische Kompetenzen dazu, außerdem ein umfassendes Wissen, aus dem er schöpfen kann, und eine Form von produktiver Besessenheit, die dazu führt, den eigenen Weg nicht aus den Augen zu verlieren. Vor allem aber muss man es auch schaffen, auf schwer vorhersehbare Weise den Geist der Zeit zu treffen, ohne die künstlerische Integrität zu verlieren. All das trifft auf
Nico Muhly zu, „the planet’s hottest composer“, wie der Daily Telegraph unlängst meinte. Geboren 1981 im amerikanischen Vermont als Sohn einer Malerin und eines Dokumentarfilmers, bekam er schon in jungen Jahren die gestalterische Vielfalt mit, die ein Leben im Kontext der Kulturszene zu bieten hat. Allerdings interessierte sich der Spross weniger für die bildenden Kunst als vielmehr für die Musik.
Als Kind sang Nico Muhly im Kirchenchor, mit zehn Jahren fing er an, Klavier zu spielen und erwies sich als außerordentlich begabt. So schaffte er auch die Aufnahme an die Juilliard School, studierte dort bei John Corigliano und Christopher Rouse. Das Diplom als Komponist fiel ihm nicht schwer, Praktika und Assistenzen zu finden ebenso wenig. So arbeitet er mit Philip Glass auf der einen Seite, hatte aber auch seine Wurzeln im anspruchsvollen Pop. Seine Klangideen führten ihn mit der isländischen Experimentalkünstlerin Björk zusammen. Muhly arbeitete mit Anthony And The Johnsons, zuweilen auch mit der Folkrock-Combo Grizly Bear, erhielt aber zu selben Zeit bereits Kompositionsaufträge von der Britten Sinfonia und wurde dazu inspiriert, gemeinsam mit dem Librettisten Craig Lucas seine erste Oper für die English National Opera zu schreiben. So dauerte es nicht lange, bis es sich herumsprach, dass da ein Multitalent in den Startlöchern steht, das mit immensem melodischen Gespür, profunder Hingabe an die Musik und enormem Einfallsreichtum Zeichen in einer Szene setzte könnte, die frischen Wind durchaus vertragen kann.
Für die Experten des Labels
Decca war das daher auch ein Anlass, den jungen
Tausendsassa nicht nur unter Vertrag zu nehmen, sondern ihn gleich mit drei sehr verschiedenen Projekten zu präsentieren. Da ist zum ersten
„I Drink The Air Before Me“, eine
Auftragsarbeit zum 25-jährigen Bestehen der Stephen Petronio Company, uraufgeführt am 28. April 2009. Es ist eine unkonventionell verhalten gestaltete Ballett-Musik, atmosphärisch bis pathetisch angelegt, mit Chor und siebenköpfigem Ensemble mit dem Komponisten selbst am Klavier eingespielt. Die zweite Produktion
„A Good Understanding“ präsentiert Nico Muhly als Chor-Spezialisten. „Es gehört zu den größten Vergnügen meines Lebens,
Chormusik zu schreiben. Ich war ein Chorknabe mit einer Vorliebe für die Texturen und hinreißenden Momente, die die anglikanische Chortradition vom 16. bis zum 21. Jahrhundert bestimmen. Mein ganzes Gespür für Linie, Melodik und Harmonik stammt aus ungewöhnlichen, insbesondere Chormusikquellen“, meint er Komponist selbst im beiliegenden Kommentar.
So entstanden eine Messe und mehrere kürzere Stücke, die der Los Angeles Master Chorale unter der Leitung von Grant Gershon in beeindruckender Klangmacht umzusetzen verstand. Teil drei des Komponistenportraits schließlich ist
„Seeing Is Believing“, eine Sammlung mit kürzeren Kompostionen, die zum einen als
Hommage an den englischen Renaissance-Komponisten William Byrd gedacht ist, zum anderen dem Geiger Thomas Gould die Möglichkeit gibt, seine sechssaitige elektrische Violine im Kontext eines größeren Ensembles wie dem Aurora Orchestra unter der Leitung von Nicholas Collon einzusetzen. Alle drei Alben dokumentieren dabei eine Klangsprache, die ohne Exaltismen auskommt, um zeitgemäß zu klingen, und die zugleich fest in einer melodischen Tradition verankert ist, die dem Experiment die Hörbarkeit gegenüberstellt. Damit hat Nico Muhly die besten Chancen, in den kommenden Jahren zu einer Konstante der gegenwärtigen Musik zu werden, zu einem Meister des Komplexen im Zusammenhang der klaren, die Menschen bewegende Klangentfaltung.
Nico Muhlys Alben
“Seeing is Believing” und
“A Good Understanding” (mit Bonustrack) sind inlusive Booklets auch bei
iTunes erhältlich.