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Nik Bärtsch – Anstiftung zu dynamischem Hören

Nik Bärtsch
Christian Senti
18.03.2021
Auf seinem faszinierenden Soloalbum “Entendre” gewährt der Schweizer Pianist, Komponist und Konzeptualist Nik Bärtsch dem Publikum einen tieferen Einblick in sein musikalisches Denken, indem er ein Licht auf gewisse Aspekte seines Spiels und die Natur seiner modularen Stücke wirft. 
Für Bärtsch ist das Hören ein dynamischer Prozess. Und genau darauf weist er mit dem französischsprachigen Titel des Albums, das im Studio Auditorio Stelio Molo in Lugano entstand, auch gleich hin. Bei diesen Solo-Einspielungen seiner modularen, polymetrischen Stücke widmete der Pianist den Feinheiten des Anschlags erhöhte Aufmerksamkeit. Dabei findet er Freiheit in der ästhetischen Beschränkung, während er die Musik gleichzeitig in neue Richtungen führt. Als ebenso wandlungsfähiger wie origineller Musiker bedient er stets den jeweiligen Kontext. Sein Solospiel hat sich dabei in jüngerer Zeit parallel zu seinen Gruppenaktivitäten entwickelt. Schlüsselmomente waren für Nik in dieser Hinsicht sein Soloauftritt zum fünfzigjährigen Jubiläum von ECM Records im New Yorker Lincoln Center im Jahr 2019 und Auftritte im Rahmen seiner noch andauernden Zusammenarbeit mit der Video- und Installationskünstlerin Sophie Clements. Eine Solo-Klavier-Tournee im Jahr 2017, deren unorthodoxe Reiseroute ihn nach Teheran, Kairo, Alexandria, Kalkutta und Delhi führte, ließ ihn außerdem über die verflochtenen Beziehungen zwischen Solo-Darbietungen und ritueller Musik in anderen Kulturen nachsinnen. Auch dies beeinflusste die Vorbereitungen für “Entendre”.
Niks durchnummerierte “Module” sollten eher als Schablonen denn als feste und endgültige Kompositionen betrachtet werden. Er selbst vergleicht sie mit “einem Grundtraining in Kampfsportarten, das an alle möglichen Situationen angepasst werden kann. Ich arbeite mit ihnen so, dass ich neue Kontexte erschaffen kann. Jedes Stück spielt mit der Vorstellung von Komposition, Interpretation und Improvisation und wird von derselben Kraft genährt, kann aber sehr überraschende Ergebnisse hervorbringen…”
Das wird gleich in der Eröffnungsnummer “Modul 58–12” deutlich. Sie vereint auf emotional kraftvolle Art zwei Stücke, die Nik mit seinen Bands schon auf früheren Alben interpretiert hat: “Modul 58” mit Ronin auf “Awase” und “Modul 12” mit Mobile auf “Continuum”. “Das hat sich im Studio einfach in diese Richtung entwickelt. Ich hatte es nicht geplant oder erwartet, dass es sich so entwickeln würde. Die Kombination dieser beiden Stücke ist vielleicht kein Zufall, sondern eher Resultat eines inneren Rufs. Mit einer ausgelassenen, überschwänglichen Stimmung am Anfang, die später dann in Leere, Stille und Raum zum Durchatmen übergeht.”
Geduld, intensiver Fokus und Leichtigkeit gehören zu den gegensätzlichen Qualitäten, die notwendig sind, um diese Musik in einer “dramaturgisch gezielten Weise” zu spielen und ihre Geheimnisse freizugeben. Wenn er solo spielt versucht Bärtsch, wie er sagt, “loszulassen und sich in dem Stück zu bewegen und über die egozentrische Art, die Musik zu forcieren, hinauszugehen, um eine höhere Stufe der Freiheit zu erreichen, die in Einklang mit der Form des Werks steht.”
Er betont außerdem, dass die Solomusik Frucht der Zusammenarbeit mit anderen ist. Das schließt das jahrelange Herumfeilen an der Musik mit Ronin und Mobile ebenso ein wie die Teamarbeit mit Produzent Manfred Eicher und Toningenieur Stefano Amerio bei dieser Aufnahmesession selbst. “Es war äußerst hilfreich, dass Manfred ganz Ohr war und Ratschläge gab, wie ich die Stücke angehen und interpretieren könnte. Etwa als er in einem Stück Verbindungen zu Gurdjieffs Musik heraushörte. Oder als er mir vorschlug, ‘Modul 26’ mit dem gleichen Flow zu spielen, zum dem ich beim Spielen von ’58′ gefunden hatte. Solches Feedback hat dazu beigetragen, das gesamte Hörerlebnis auf eine sehr organische Weise zu erweitern.”
Der reaktionsfreudige Studioraum in Lugano – in dem zuvor auch schon die “Continuum”-Aufnahmen von Mobile entstanden waren – ist seinem Ruf gerecht geworden, sagt Bärtsch. “Mein Ansatz in der Solomusik ist nicht in erster Linie ein ‘Jazz’-Anschlag auf dem Klavier. Er liegt zwischen den Dingen. Zwischen Kammermusik, Solospiel in der klassischen Tradition, modernerer Minimal Music und dem ‘Groove’-Aspekt. Und der natürliche Nachhall des Raumes half, diese Elemente hervorzuheben. Ich fühlte mich auch von der Geschichte des Studios inspiriert. Und mir gefällt es wirklich, dass es sich hier in der Schweiz befindet, in dem Land, in dem ich lebe und mit Ronin arbeite. Ich brauchte nirgendwo anders hinzugehen, um diese Musik zu dokumentieren. Sie findet hier statt.”
Kurz nach der Veröffentlichung von “Entendre” wird bei dem Schweizer Verlag Lars Müller Publishers im Mai Nik Bärtschs englischsprachiges Buch “Listening: Music – Movement – Mind” erscheinen, das von der Entwicklung seiner “rituellen Groove Music” und der ihr zugrundeliegenden Philosophie handelt.

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