Es ist ein ganz besonderes Orchester und es sucht, das lässt sich ohne Übertreibung sagen, seinesgleichen: das Orpheus Chamber Orchestra. Nicht nur die Qualität seiner Aufnahmen, sondern auch und vor allem seine Arbeitsweise, die sich von Beginn an nicht geändert hat, unterscheidet es von vielen anderen Spitzenorchestern: das Orpheus Chamber Orchestra arbeitet ohne Dirigenten – und das seit 50 Jahren! Die Gründung des Orchesters im Jahr 1972 fiel in eine Zeit, in der die Proteste gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam längst einen weitreichenden gesellschaftskritisch-reformerischen Impetus erreicht hatten, der zum einen das amerikanische Establishment in Frage stellte. Zugleich entwuchs ihnen das Ideal einer kollektiven künstlerischen Führung als Alternative zu den vielfach als autoritär empfundenen Strukturen in allen gesellschaftlichen Bereichen, vor allem eben aber auch in Kunst und Kultur.
Demokratisches Musikzieren
Die Musiker um den Cellisten Julian Fifer hatten eine besondere Vision von einem “demokratischen Musizieren”. Und was vor dem Hintergrund der allgemeinen Musik- und Orchestergeschichte unmöglich schien – hier wurde es Realität: der Vorbereitungsprozess verläuft nach kollektiven Regeln, bei denen die Hauptvoraussetzung lautet: jeder gibt immer alles! Aus dem Orchesterapparat heraus wird von mal zu mal aufs Neue entschieden, wie die Programme im Einzelnen aussehen, ja sogar, wer bei welchen Stücken als Konzertmeister agiert.
Die umfangreiche Diskografie des Orchesters wird jetzt anlässlich des bevorstehenden 50-jährigen Jubiläums des Orpheus Chamber Orchestra im Jahr 2022 durch eine monumentale 55-CD-Box gekrönt, die sämtliche Aufnahmen des Orpheus Chamber Orchestra für die Deutsche Grammophon enthält. Allesamt sind sie Meilensteine einer engen Partnerschaft zwischen Label und Orchester.
Das Orchester und sein Produzent
Dass viele von ihnen zu Referenzaufnahmen einzelner Werke wurden, hat verschiedene Gründe. Da ist zum einen die rückhaltlose Identifikation der Musiker mit dem Orchestergedanken, dass alles der Musik unterzuordnen ist. Da sind die großartigen Solisten wie der Klarinettist
Charles Neidich und der Hornist
David Jolley, beide Orchestermitglieder. Da ist zum anderen die Zusammenarbeit mit so brillanten Solisten wie
Martha Argerich, Gidon Kremer, Mischa Maisky,
Gil Shaham oder
Jan Lisiecki.
Einen wesentlichen Anteil an der herausragenden musikalischen Qualität der Aufnahmen hat auch der Produzent Wolf Erichson, der mit seinem Wirken Schallplattengeschichte schrieb und den größten Teil der Aufnahmen dieser Box realisierte. Erichson war bereit, nicht nur für die technische Qualität der Aufnahmen die Verantwortung zu übernehmen, sondern auch – und das war neu für damalige Verhältnisse – für die künstlerische. Die Musiker lernten den Wert seiner Expertise sehr schnell zu schätzen, die Erichson mit seinen außerordentlichen Erfahrungen als Produzent Alter Musik mitbrachte. Sie bereicherte das gemeinsame Abhören einzelner Aufnahmen und motivierte die Musiker zu immer neuen Anstrengungen.
In allen Repertoirebereichen “zu Hause”
Wie fruchtbar ein solches partnerschaftliches und offenes Zusammenwirken zwischen Produzenten und Interpreten sein kann, zeigen beispielsweise die herrlichen
Mozartaufnahmen, etwa die Serenata notturna KV 239, oder die Serenade Nr.10 in B-Dur KV 361 für zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Bassetthörner, vier Waldhörner, zwei Fagotte und Kontrabass, die so genannte
Gran Partita. Unter den insgesamt sechzehn
Haydn-Sinfonien, die das Orchester mit Erichson aufnahm, sind auch die 1784 komponierten Sinfonien Nr.77–81, die während Haydns Anstellung bei
Fürst Esterhazy entstanden.
Dass das Orpheus Chamber Orchestra in nahezu allen Repertoirebereichen “zu Hause” ist, zeigt auch die Aufnahme von
Richard Strauss’ 1919 komponierter, fast kammermusikalisch besetzten Orchestersuite “Der Bürger als Edelmann”.
Juwelen der Moderne
Auch und gerade zur Moderne in der Musik hat das Orchester ein enges Verhältnis. Der Bogen der Aufnahmen spannt sich von Bartoks Divertimento über Schönbergs Kammersymphonien, die “Schattentänze” und die “Pulcinella Suite” Strawinskys bis hin zu Zoltan Kodalys 1906 komponiertem “Summer Evening”. Orpheus hat über 50 neue Werke in Auftrag gegeben und uraufgeführt. So ist es nur folgerichtig, dass die Box diese Facette des Orchesters mit dem Album “Points of Departure” präsentiert, mit Werken aktueller amerikanischer Komponisten wie Fred Lehrdahl, Jacob Druckman, William Bolcom und Michael Gandolfi.
Ein echtes Juwel dieser Box ist das 2001 veröffentlichte Album “Wayfaring Stranger” mit Andreas Scholl, dem Lautenisten Edin Karamazov und der Harfenistin Stacey Chames, bei dem das Orpheus Chamber Orchester im besten Sinne des Wortes “begleitend” wirkt und die Stimme Scholls sowie die Harfe und Laute sprichwörtlich “einbettet”.
Die Box ist ab sofort im Deutsche Grammophon Store erhältlich. Zugleich stehen 14 Alben, die vormals nicht in digitaler Form erschienen sind, nun erstmals zum Streamen und Download zur Verfügung.