Sie trugen Künstlernamen wie Gavrochinette (Straßenmädchen), La Goulue (Die Gefräßige), Lili-Jambes-en-l’air (Lili mit den Beinen in der Luft) und Valentin le Désossé (Valentin der Knochenlose) – die Tanzstars des Pariser Cancan-Milleus. Sie treten in dem Programm mit französischen Liedern und Chansons, das Patricia Petibon für ihr neues Album “La belle excentrique” zusammengestellt hat, gewissermaßen als Nummerngirls auf.
Libertärer Geist
Der Zeremonienmeister ist Erik Satie, jener schrullig-geniale Komponist aus der Belle Époque, der zwischen Kunst- und Unterhaltungsmusik keinen Unterschied machte, und anstößige Chansons fürs Caf' Conc' ebenso komponierte wie klassische Werke für Orchester und Ballett. Vom libertären Geist dieses Dada-Dandys ist Petibons Album inspiriert. “Der Hintergrund des Albums ist, dass ich die Liebe zu Erik Satie, die ich als Kind empfand, wiederentdecken wollte”, erklärt die französische Sopranistin.
“Ich erinnerte mich an dieses Stück ‘La belle excentrique’. Das war für mich eine dadaistische Welt. Kurioserweise bemerke ich immer dann, wenn ich singe, dass diese Welt ein Teil von mir ist, eine Welt der Absurdität und der Fantasie. Natürlich singe ich auch ernste und lyrische Sachen. Doch es ist essenziell für mich, meinen Hang zum Fantastischen auszuleben.”
Von Fauré zu Ferré
Zwei Sätze aus Erik Saties Ballettmusik “La belle excentrique” (1920) in einer vierhändigen Klavierfassung bilden die Eckpfeiler von Patricia Petibons Album und lieferten das Material für hier und da eingestreute instrumentale Zwischenspiele, die witzigerweise nach den eingangs erwähnten Tänzerinnen und Tänzern benannt sind. Neben weiteren Klavierstücken und Chansons aus der Feder von Satie beinhaltet das Programm Titel von Gabriel Fauré, Francis Poulenc, Manuel Rosenthal und dem Chansonnier Léo Ferré.
Es ist eine Lust, dieses Album zu hören. Man kann es dank einer wohl ausbalancierten Dramaturgie, in der sich Witz, Tragikomik, Romantik und Absurdität abwechseln, wunderbar als Ganzes genießen, oder immer wieder davon naschen wie aus einer randvoll gefüllten Tüte mit 29 Bonbons in diversen Farben und Geschmacksnoten. Patricia Petibons Hommage an das Goldene Zeitalter des Chansons (1890–1960) ist zugleich ein Streifzug durch die Pariser Halbwelt der Cafés Chantants, Café Concerts und Music Halls, über die Alfred Kerr einmal schrieb, es finde sich darin alles, “Kot und Glorie, Himmlisches und Niederstes.”
Große Ausdrucksvielfalt
Mit welch einer enormen Ausdruckspalette die Sängerin innerhalb dieser Gegenpole arbeitet, mit welcher Treffsicherheit sie kesse, aufgekratzte, eindringliche, anmutige und weltentrückte Zwischentöne artikuliert, ist schlichtweg erstaunlich. Man höre sie nur im höchst amüsanten “Allons-y Chochotte!” von Erik Satie, einem Chanson mit von Pianistin Susan Manoff linkisch pointiertem Cakewalk-Rhythmus und zungenbrecherischem Refrain, dessen Titel sich mit “Zier' dich nicht, Schätzchen!” übersetzen lässt. Es erzählt eine frivole Liebesgeschichte, vom Brautwerben über die überstürzte Hochzeit bis zur Geburt eines Knaben, der zum Entsetzen der Hebamme mit den Worten “Allons-y Chochotte!” auf der Nabelschnur zur Welt kommt (sic!).
Patricia Petibon singt das Stück im Duett mit dem eng befreundeten Schauspieler und Regisseur
Olivier Py, der Bergs “Lulu” und Poulencs “Dialogues des Carmélites” mit ihr inszeniert hat. Hier – wie auch in
Ferrés “Jolie môme”, dem zweiten Duett mit Py auf diesem Album – spielt sie ihr großes komisches Talent aus: Sie singt die Chochotte, so sagt sie selbst, “wie ein Fischweib”, wirft sich in eine köstliche Pose dümmlicher Lüsternheit; sie überdehnt die Vokale, prustet die Konsonanten und intoniert schlampig. Der Gegensatz zum darauffolgenden Stück
“Je te veux”, ein langsamer Walzer von Satie, könnte nicht größer sein. Man glaubt, eine andere Sängerin zu hören, die sich ganz dem natürlichen Strömen ihres prachtvollen Soprans hingibt.
Sehen Sie hier das neue Video von
Patricia Petibon “Voyage à Paris”