Man stelle sich vor, wie ein mittlerer Teenager stundenlang vor einem Hotel in London auf sein großes Idol wartet um einen Blick, ein Autogramm, ein Winken zu erhaschen. Schließlich kommt das Idol heraus und winkt charmant zurück. Es ist Fred Astaire. Der wartende Teenager heißt Matthew Bourne und wird 25 Jahre später den Astaire Award für seine Ballett-Version von Tschaikowskis “Schwanensee” erhalten.
Heute zählt Bourne selbst zu den einflussreichsten Persönlichkeiten der internationalen Tanz-Szene. Er ist ein Erfolgsgarant, dem es gelingt, auch der breiten Masse einen Zugang zum Ballett zu verschaffen: „Wenn ich choreografiere, denke ich natürlich an das Publikum. Einige waren vorher noch nie in einem Ballett und ich versuche, es so zugänglich wie möglich zu gestalten. Ich spreche hier aber nicht von einer Vereinfachung. Es geht mir vielmehr darum, das Wesentliche der Geschichte so zu erfassen, dass die Zuschauer auch etwas dabei empfinden.“ Hierfür bewegt sich Bourne gern abseits von angestaubten Klischeevorstellungen und sucht immerfort nach neuen künstlerischen Möglichkeiten für seine Tanz-Stücke.
Matthew Bournes erfolgreiche Tschaikowsky-Trilogie
So ist es geradezu bezeichnend, dass dem Choreografen der weltweite Durchbruch ausgerechnet mit den Ballett-Klassikern “Nussknacker” und “Schwanensee” gelang, obwohl er bei beiden grundlegende Neuerungen vornahm, die man bis dato in den Inszenierungen so noch nicht gesehen hatte: Statt die Geschichte des Nussknackers aus der Sicht eines wohlhabenden Mädchens zu erzählen, verlegte Bourne die Handlung in ein Waisenhaus und zeichnete somit ein düsteres, an Charles Dickens erinnerndes Ausgangsbild der bunten Fantasiereise. In seiner “Schwanensee”-Inszenierung besetzte er die Rolle der Schwanenprinzessin mit einem männlichen Tänzer, sodass das tragische Liebespaar auf der Bühne zum ersten Mal überhaupt von zwei Männern verkörpert wurde.
Trotz des bahnbrechenden Erfolgs beider Stücke sollte es noch 17 Jahre dauern bis auch das dritte Ballett Tschaikowsks mit Bournes Kompanie “New Adventures” eine sensationelle Premiere feierte. Vor der Umsetzung von “Dornröschen” zögerte Bourne lange. Zu sehr schien Tschaikowskys Musik hier Strukturen des klassischen Balletts einzufordern, zu einschränkend erschien ihm die Geschichte, die als zentrales Thema vor allem die soziale Ordnung jener Zeit hat und nicht das menschliche Ringen mit inneren Konflikten und Sehnsüchten in den Vordergrund stellt. Matthew Bourne musste also die Vorzeichen ändern.
Romantisch-düsterer Bilderrausch
Bournes Geschichte von “Dornröschen” beginnt 1890, Ende des viktorianischen Zeitalters, nimmt ihre dramatische Wendung 1911 in der Belle Époque und lässt die Hauptfigur schließlich 100 Jahre später in unserer Zeit wieder erwachen. Die große Zeitspanne gibt Bourne mehr denn je die Möglichkeit, verschiedene Tanzstile zu inkorporieren: Ballett, Tanzströmungen des frühen 20. Jahrhunderts, zeitgenössischer Tanz. In der Hochzeitsszene wird mit unorthodoxen Bewegungen und Figuren der moderne Tanz gefeiert, in der Schlafwandlerszene auf Isadora Duncan referiert. Trotz aller tanzhistorischen Bezüge mündet Bournes choreografische Arbeit am Ende vor allem in eine stark erzählte Geschichte, die den Zuschauer sofort in einen emotionalen Sog zieht und vor allem auch durch Witz und Einfallsreichtum überzeugt. So gibt sich Bourne bei der Taufszene von Hauptfigur Aurora nicht etwa mit einer konventionellen Wiegendarstellung zufrieden, sondern zeigt mithilfe einer animierten Puppe das Baby als wildes, monströses Geschöpf, das auch mal an den Vorhängen empor klettert.
Bourne hat das Glück, ein eingespieltes Team an seiner Seite zu haben. Neben den überzeugenden tänzerischen Darbietungen trägt nicht zuletzt auch sein langjähriger Bühnenbildner Lez Brotherston mit seinem schaurigen, Gothic-angehauchten Design zum detailreichen Gesamtbild bei. Wer Matthew Bournes neues Meisterwerk kennenlernen oder noch einmal genießen will, der kann dies jetzt mit “Sleeping Beauty – A Gothic Romance” auf DVD und Blu-ray tun. Zusätzlich zur Gesamtaufführung widmet sich die Dokumentation “Imagine – A Beauty is Born: Matthew Bourne’s Sleeping Beauty” dem spannenden Entstehungsprozess der Produktion.