Ravels “Bolero” und Mussorgskys “Bilder einer Ausstellung” sind zwei Eckpfeiler der abendländischen Musikgeschichte, mindestens ebenso präsent im kollektiven Kulturbewusstsein wie Mozarts “Kleine Nachtmusik” oder Beethovens “Fünfte”. Sie wurden zusammen mit Ravels “Rapsodie espagnole” von Carl Craig und Moritz von Oswald ausgewählt, um im Rahmen der aktuellen Ausgabe von “Recomposed” einer eingehenden Neubearbeitung unterzogen zu werden. DJ-Culture trifft auf Konzertsaalklassiker, Dekonstruktivismus auf Impressionismus und als Konzentrat des Ganzen entsteht ein Hörgebilde, das nah an den Minimalisten und Serialisten populäre Klangsphären entwickelt. Ein bemerkenswertes Experiment.
Genau genommen ist es die Fortentwicklung dessen, was als Remix inzwischen zum Handwerkszeug der popmusikalischen Moderne gehört. Musik wird zerlegt, zumeist anhand der Originalbänder oder deren Kopien, um alle Spuren einzeln bearbeiten zu können, und dann nach Maßgabe der jeweiligen künstlerischen Persönlichkeit in andere Strukturzusammenhänge gestellt. Die Ergebnisse sind sehr unterschiedlich und reichen von reinen Tanz-Updates bis hin zu vollständigen Neukonstruktionen. Es ist, systematisch gesehen, eine Form der Interpretation durch die Instrumente Mischpult, Sampler, Plattenspieler und Laptop, und kann sich durchaus zu einem eigenständigen Kunstwerk entwickeln, das auf der Ebene des fortgeschrittenen Kommentars unkonventionelle Einsichten und Hörerlebnisse vermittelt.
Beispiel: Die ersten beiden Folgen der Reihe Recomposed. Zunächst hatte sich der Konzeptkünstler Matthias Armann (2005) mit der Idee beschäftig. Er konzentrierte sich über Tage hinweg auf ein Stück, verinnerlichte es, bis er jede Note kannte, gestaltete dann eine Basslinie dazu und schuf eine Art von Basis-Groove, auf dem die anderen Bearbeitungen aufbauen konnten. Von diesem Punkt aus konnte er mit den Schichtungen und Umbauten beginnen, manchmal verhaltener wie bei Holsts “Mars”, dann wieder radikaler wie beispielsweise beim Allegro von Schuberts “Unvollendeter” und sogar um afrikanische Lyrics ergänzt wie bei Dvoraks “Aus der neuen Welt”.
Folge zwei war dann im folgenden Jahr dem finnischen Musiker, Komponisten und DJ Jimi Tenor überantwortet worden. Er begnügt sich nicht damit, die Vorlagen zu sichten, zu bewerten und zu zerlegen, um sie dann wieder möglichst publikumswirksam wieder zusammenzusetzen, sondern nahm den Auftrag des “Rekomponierens” ausgesprochen ernst, schuf veränderte Strukturen, griff spielend und schichtend in einen bereits vorhandenen Prozess der Gestaltung ein. Tenor ließ sich von den Vätern der musikalischen Gegenwart inspirieren, von Pierre Boulez und Edgar Varèse, von Erik Satie und Steve Reich, selbst von Nebenlinien wie Esa-Pekka Salonen und Georgi Sviridov, und komprimierte die Kompositionen, nahm ihnen den für ihre Zeit typischen ästhetischen Ballast, setzte sie mal hörspielartig mit angedeuteter Geräuschhandlung, mal von synthetischen Keyboards oder klaren Saxofonklängen sekundiert, mal frei assoziativ oder beatbezogen konkret wieder zusammen.
Und nun also Folge drei. Diesmal wurden Carl Craig und Moritz von Oswald für Recomposed gewonnen. Der eine zählt zu den Lichtgestalten der zweiten Detroit-Techno-Szene und hat seit den späten Achtzigern mit Projekten wie Innerzone Orchestra oder Psyche die Electronic- und Clubbing-Szene geprägt. Der andere arbeitete nach klassischem Studium in Formationen wie Basic Channel, Maurizio oder Rhythm & Sound an der Neubestimmung der akustischen Szene-Sprache. Beide zusammen nun zerlegen die Kompositionen von Ravel und Mussorgsky in motivische Bestandteile, stellenweise bis auf die Ebene der Textur, um sie dann als durchlaufendes Kontinuum in Form eines DJ-Sets – früher hätte man gesagt einer Suite – zu restrukturieren. Bezeichnend ist dabei, dass sie auf die konkrete Verweise in Form von Tracks verzichten, dafür in der Tradition von Steve Reich die Klangstücke in sechs “Movements” plus Einleitung aufeinander beziehen. So entsteht ein raffiniertes Kompendium der musikalischen Ahnungen, das sich anhand ausgetüftelter Beat-Struktur und Dramaturgie bis zu einem viertelstündigen Schlusspunkt steigert. Das ist Interpretation mit kathartischen Qualitäten und für die Reihe Recomposed abermals ein großer Schritt nach vorne.
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Hatte man bisher den Eindruck, die Reihe “ReComposed” solle in erster Linie Clubgänger für neue Hörerfahrungen begeistern, könnte diesmal auch mancher Klassikfan sein Interesse für elektronische Musik entdecken. Was Craig und Oswald geschaffen haben, ist beiden Welten verpflichtet, und so genial hat wohl noch niemand diesen Spagat hinbekommen: Das Ergebnis ist nicht bloß eine spannende Neubearbeitung, es ist tatsächlich der ganz große Wurf." (De:Bug)
“Über ein Jahr lang haben sie immer wieder an diesem Projekt gearbeitet: Moritz von Oswald, einer der großen Perfektionisten des Techno, und Carl Craig, der wie kein anderer Drama in diese Musik zu bringen vermag. (
)Tatsächlich ist das Großartige an dieser Platte vor allem eines: Es ist eine Technoplatte, wenn auch für Freunde des erweiterten Technobegriffs” (Taz)