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Riccardo Chailly und die „Matthäus-Passion“

Riccardo Chailly
Decca/ © Gert Mothes
02.03.2010
Aus heutiger Perspektive erscheint es kaum fassbar, aber: Die Schönheit der Werke von Johann Sebastian Bach musste erst wiederentdeckt werden. Kurz nach dem Tod des barocken Musikgenies verschwanden viele von dessen Kompositionen in der Versenkung, überdeckt von Moden des Rokkokos und der einsetzenden frühen Klassik. Erst mit Felix Mendelssohn änderte sich die Situation. Als Dirigent des Gewandhausorchesters machte er sich in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts dafür stark, die fast vergessenen Chor- und Ensemblewerke von Johann Sebastian Bach wieder in das Repertoire aufzunehmen. Riccardo Chailly, einer seiner prominenten Nachfolger am Pult des Orchesters, hat es sich nun zur Aufgabe gemacht, einige der zentralen Meisterstücke des Komponisten in dessen Sinne mit der Erfahrung eines viel beschäftigten und zugleich neugierigen Dirigenten zu interpretieren. Drei prominente Veröffentlichungen stehen in diesem Jahr auf dem Plan. Nach dem Start mit den „Brandenburgischen Konzerten“ im Januar folgt pünktlich zur Osterzeit nun die „Matthäus-Passion“ und im Herbst dann das „Weihnachtsoratorium“.
Leipzig hatte es sich nicht leicht gemacht. Als der neue Kantor im Mai 1723 mit vier Wagen und zwei Kutschen in der Stadt eintraf, um sein „neu renovirtes“ Dienstquartier in der Thomasschule zu beziehen, konnte keiner der Räte ahnen, dass sie sich einen streitbaren Künstler eingeladen hatten. Sie sollten es aber schnell zu spüren bekommen, dass Bach in Fragen der Musik zu keinen Zugeständnissen bereit war. Über die kommenden zwei Jahrzehnte hinweg geriet er regelmäßig mit dem städtischen Gremium aneinander, wenn jemand versuchte, ihn in seinen Kompetenzen und Zuständigkeiten zu beschneiden. Außerdem war es für ihn eine deutliche Umgewöhnung von den Vorzügen des „Hochfürstlich Anhalt-Cöthenschen Capellmeisters“, als der er sechs Jahre lang dem Fürsten Leopold gedient hatte, zu den Pflichten des Leipziger Amtes. Doch das wiederum schreckte Bach nicht. Im Gegenteil: Mit immenser Energie widmete er sich den zahlreichen Kantaten, die er Woche für Woche für immerhin vier ihm unterstehende Kirchen zu komponieren hatte. Dazu kamen Motetten für verschiedene Anlässe – Hochzeiten, Beerdigungen –  Lehr- und Auftragswerke mit sehr unterschiedlichen Funktionen und eigene Studien, die zunächst nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren.
Bis zum Jahr 1728 entstanden auf diese Weise zahlreiche Vokalwerke für den liturgischen und rituellen Gebrauch. An den hohen Festtagen galten in den Leipziger Hauptkirchen besondere Regelungen. Diese Festtage waren zu Bachs Zeiten in der Regel Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Neujahr, Epiphanias, Mariae Reinigung (2. Februar), Mariae Verkündigung (25. März), Mariae Himmelfahrt (15. August), Trinitatis (Sonntag nach Pfingsten), Johannis (24. Juni), Mariae Heimsuchung (2. Juli), Michaelis (29. September) und das Reformationsfest (31. Oktober). Diese Termine erforderten eine besondere Behandlung und wurden von Bach mit entsprechender Sorgfalt bedacht. Für den Karfreitag waren zusätzlich große Passionen verlangt. Die „Johannes-Passion“ debütierte 1724 und wurde im folgenden Jahr in einer bearbeiteten Version wieder aufgeführt. Sie entsprach dem Typus der so genannten oratorischen Passion, bei der der Bibeltext des Evangeliums mit Kirchenliedstrophen und betrachtenden Arien bzw. Ariosi ergänzt wurde. Die 1727 uraufgeführte „Matthäus-Passion“ schließlich entstand ausschließlich in Leipzig, war ebenfalls eine oratorische Passion, jedoch von einer Monumentalität, wie sie bislang unbekannt war. Die Aufführung dieses Vokalepos’ dauerte immerhin rund 3 Stunden, verteilt auf zwei Abschnitte vor und nach der Predigt.
Das mag einer der Gründe sein, weshalb lange Jahre Dirigenten und Ensembles die Finger davon ließen. Die Aufführung war aufwendig und Aufnahmen gestalteten sich erst recht kompliziert. Günther Ramin versuchte als Dirigent des Gewandhausorchesters 1941 erstmals wenigstens die Hälfte des Werks auf Platte festzuhalten. Tatsächlich gelang eine vollständige Einspielung mit Hilfe der Leipziger Ensembles erst in den sechziger Jahren. Es wundert daher wenig, dass die „Matthäus-Passion“ noch zahlreiche Facetten hat, die gedeutet werden wollen. Riccardo Chailly hatte es sich daher im vergangenen Jahr zur Aufgabe gemacht, das Oratorium bestmöglich mit großem Ensemble umzusetzen. Zu seinem Team gehörten nicht nur das Gewandhausorchester, der Thomanerchor und der Tölzer Knabenchor, sondern auch brillante Solisten wie der Bass Hanno Müller-Brachmann mit der Partie des Jesus und sein Kollege Thomas Quasthoff als erster Pontifex. Die Aufführung war ein Erfolg, die Aufnahme nun dokumentiert eine rundum faszinierende Interpretation dieses Säulenwerkes der europäischen Musikgeschichte und setzt die Bach-Reihe Riccardo Chaillys fort, die schließlich im Herbst mit dem „Weihnachtsoratorium“ abgeschlossen wird.

Weitere Informationen zu Riccardo Chailly auf seiner Künstlerseite bei KlassikAkzente.de

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