Wie lässt sich Musik so eng wie möglich mit unserem Körper verbinden? Ist eine Musik denkbar, die direkt aus unserem Inneren kommt?
Richard Reed Parry hat sich diese Fragen vor langer Zeit zum ersten Mal gestellt. Er hat Klangforschung und zeitgenössischen Tanz studiert, bevor er sich 2002 der kanadischen Band
Arcade Fire anschloss. Im Studium hörte er eine Vielzahl elektroakustischer Kompositionen, zu denen er größtenteils keinen Zugang fand. “Das war zwar intellektuell reizvoll, doch stellte diese Musik keinen Bezug zu meinem Körper her”, sagt er. Als Gegenentwurf erfand er eine buchstäblich organische Musik: Richard Reed Parrys
“Music for Heart and Breath” ist an Körperfunktionen gekoppelt. Gestaltungsparameter der Aufführung sind Atem- und Herzfrequenzen der Musiker. Zu diesem Zweck trägt jeder Interpret ein Stethoskop.
Irisierende Schönheit
Im Eröffnungsstück des Albums führt der Komponist sein Konzept exemplarisch vor. Eine Geige spielt, Pizzicato. Unablässig wiederholt sie eine Figur aus zwei Impulsen unterschiedlicher Tonhöhe, etwa 80 Mal pro Minute – das Schlagen eines Herzes. Oboe, Trompete, Flöte, Bratsche und Cello kommen nacheinander dazu, alle spielen eine pochende Zweitonfigur. Jede Stimme folgt ihrem eigenen Zeitgeber, dem Puls des jeweiligen Spielers. Dadurch verschieben sich die Stimmeinsätze kontinuierlich gegeneinander. Ein tempo rubato, hervorgerufen durch Schwankungen der Herzfrequenz, verleiht den einzelnen Stimmen zusätzliche innere Elastizität. So entsteht ein polymorphes Klanggewebe von irisierender Schönheit, dessen grafische Repräsentation man sich in Form von sechs übereinandergelegten EKG-Herzspannungskurven vorstellen kann. Vor diesem Hintergrund etabliert sich bald eine neue Klangschicht: Die Geige wird nun mit gestrichenem Bogen gespielt, ihre Klanggesten folgen dem Ein- und Ausatmen des Geigers …
Kontrolliertes Chaos
Als Gesamtheit aller Stimmen besitzt dieses faszinierende Stück weder Takt noch Metrum. Gleichwohl existiert eine zeitliche Gliederung, resultierend aus Vorgaben des Komponisten zur Anzahl der Wiederholungen der Zweitonfigur, zur Veränderung von Tonhöhen, Dynamik und Spieltechniken. Es geht hier wie auf dem gesamten Album um das Wechselspiel zwischen Organisation und Chaos. Richard Reed Parry experimentiert im weiteren Verlauf mit verschiedensten Konstellationen erkennbarer Ordnung und freien Fließens sowie mit variierenden Besetzungen (Duett, Quartett, Sextett, Nonett, Orchester). Für das Orchesterstück etwa entschied er, als Zeitmaß allen Spielern den Herzschlag des Dirigenten (Nico Muhly) vorzugeben.
Neuartige Hörerfahrung
“Es ist schon recht umständlich, weil die Musiker mit einem Stethoskop in sich hineinhören und zugleich auf die anderen hören müssen”, gesteht Richard Reed Parry ein. “Doch dadurch entsteht eine Subtilität, eine Weite und ein einzigartiges Wechselspiel zwischen den Musikern und dem Stück selbst, das stets im Fluss ist und sich nie wiederholt: Jedes Stück ist eine einzigartige, zarte Kollision von Tönen, Dynamik, Zeiteinheiten und wechselnden Harmonien, dem jedes Mal wieder im wahrsten Sinne neues Leben eingehaucht wird.” Seine Musik, so meint er, eröffnet eine völlig neue Hörerfahrung. “Die Musiker verstärken und übermitteln ihre subtilen physiologischen Rhythmen. Der Hörer auf der anderen Seite nimmt nicht nur Anteil an diesem intimen Vorgang, sondern hört zugleich auch in sich selbst hinein.”
“Music for Heart and Breath” wurde erstmals 2011 aufgeführt. An der von Deutsche Grammophon produzierten Aufnahme wirkten
Nico Muhly, Aaron und Bryce Dessner (The National), das
Kronos Quartet und das
yMusic Sextet mit. Das Album erscheint am 13.06. Richard Reed Parry plant eine Fortsetzung.