Er war ein Mann von ungeheuerer Eigenständigkeit und Unbeirrbarkeit. Ein Individualist durch und durch. Dass ihn manche später für einen Mann des 19. Jahrhunderts hielten, einen unverbesserlichen Romantiker, an dem die Auflösung der Tonalität scheinbar völlig vorbeigegangen war, hätte ihm wahrscheinlich kaum mehr als ein Achselzucken abgenötigt. Strauss ist Strauss. Was die anderen machen, ist ihre Sache.
Gigant des 20. Jahrhunderts
Das Ergebnis spricht für sich. Richard Strauss, den Glenn Gould einmal als einen der “wahren Giganten des 20. Jahrhunderts” bezeichnet hat, hinterließ ein gewaltiges Opernwerk, das in seiner Gesamtheit übrigens gerade als Sammleredition von Deutsche Grammophon veröffentlicht wurde. Aber nicht minder bedeutsam ist sein sinfonisches Schaffen, das ihn als einen kühnen Abenteuer mit Steuerrad in der Hand zeigt. Strauss riskiert alles. Er ist in seiner chromatischen Freizügigkeit äußerst wagemutig. Aber er behält dabei, und das dürfte einzigartig sein, den Überblick.
Mysterium der Tondichtungen
Die Tondichtungen von Richard Strauss sind ein Mysterium. Einerseits ausdrucksstark, impulsiv, ja wild und dramatisch, wohnt ihnen doch andererseits eine gleitende Ruhe inne, über die man nur staunen kann. Sie sind formal strenger, eingerahmter, organisierter als die sprengende Dramatik Wagners, von deren Kühnheit sie gleichwohl inspiriert bleiben. Obwohl sie gefühlsgeladen sind bis an die Grenze, sind sie nicht von der ausufernden Labilität bedroht, wie sie für manche Exzesse der spätromantischen Musik typisch ist. Strauss explodierte zwar in seiner Musik, aber er hielt das Material mit einer soliden Basslinie unter Kontrolle. Man könnte sagen: Strauss lässt es zwar krachen, aber er weiß, wann es genug ist. Oder: Er zügelt den Wagner in sich mit ein bisschen Bach.
Schönheit der Form
Die akustischen Wunderwerke, die Strauss mit dieser gebändigten Dramatik komponierte, sind von überwältigender Schönheit. Befriedigen sie einerseits das romantische Bedürfnis nach emotionalem Ausdruck, so streicheln sie andererseits noch das harmoniesüchtige Ohr mit ihrer ausgereiften Kontrapunktik. Davon kann man sich jetzt in allen Facetten überzeugen, wenn man zu der bei Decca erschienenen CD-Box greift, auf der sich alles findet, was im instrumentalen Schaffen von Richard Strauss musikalische Bedeutung erlangt hat: von sämtlichen Tondichtungen, u.a. das berühmte “Also sprach Zarathustra” op. 30, “Ein Heldenleben” op. 40 oder “Tod und Verklärung” op. 24, über Konzerte für Violine, Oboe oder Horn, die “Rosenkavalier-Konzertsuite” bis hin zu dem exquisiten Opus der “Metamorphosen”, dieser gefühlvollen, einfachen und altersweisen Komposition für 23 Solostreicher.
Erfreulich ist auch, dass sich ein ganzes Spektrum von berufenen Strauss-Interpreten auf den CDs findet: von Kurt Masur (Gewandhausorchester Leipzig) über Vladimir Ashkenazy (Cleveland Orchestra) bis hin zu Herbert Blomstedt (San Francisco Symphony Orchestra), Antal Doráti (Detroit Symphony Orchestra) und Giuseppe Sinopoli (Staatskapelle Dresden). Diese Dirigenten sind tief in den Sinn des spätromantischen Komponierens von Richard Strauss eingedrungen und haben die Glut dieser Musik stets aufs Neue angefacht, ob mit der geballten Leidenschaft eines Giuseppe Sinopoli oder mit detailversessenen, zurückgenommeneren Mitteln wie bei Blomstedt oder Ashkenazy.
Das pralle Leben
Die Musik von Strauss spricht zu uns. Man braucht nur hinzuhören. Die Tondichtungen erfordern keine Kenntnisse des Stoffes. Strauss hat sich, von wenigen tonmalerischen Ausnahmen abgesehen (der Einsatz einer Windmaschine etwa in “Don Juan”), strikt an Beethovens Maxime gehalten: “Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei.” Natürlich kann man aus einer Tondichtung wie “Don Juan” das Stolzieren des Helden, die Umschmeichlung der Frauen und den Triumph der Eroberung heraushören. Aber im Kern geht es um die Darstellung innerer Möglichkeiten und existentieller Herausforderungen im Leben: ob man an die Chance zum Heldentum denkt (Zarathustra), an sinnlose Kämpfe (Don Quixote), die jeder im Leben durchzustehen hat, oder an die Begegnung mit dem Tod. Stets spricht aus der Musik von Strauss das wirkliche Leben. Und das Wunderbare ist: Man kann an dieser zutiefst körperlichen Kunst, die das Leben in sich hineingelassen hat, bis heute teilhaben und sie mit seinen eigenen Erfahrungen nacherleben.