23. April 1616: ein Mann stirbt, seine Legende wird geboren. Ohne
William Shakespeare wären die Sprache, die Kunst, Literatur, die (Pop-)Kultur heute ärmer. Kein Dichter hat die Menschen so unmittelbar berührt. Keiner hat so brillant und zeitlos die großen archetypischen Gefühle inszeniert: Liebe und Hass. Sehnsucht und Überdruss. Leidenschaft und Langeweile. Sein oder Nicht-Sein. Keine Frage: der geniale Wortjäger und -Sammler veränderte die Art, mit der wir uns heute ausdrücken. Ohne Shakespeare hätte
Leonard Bernstein keinen Plot für seine “
West Side Story” gehabt,
Agatha Christie beim Schreiben ihrer “Mausefalle” auf dem Stift herumgekaut,
Alfred Hitchcock Dokumentarfilme gedreht, hätten
Nick Lowe,
Iron Maiden oder
Mumford & Sons sich andere Songs und Albumtitel ausdenken müssen. Shakespeare ist überall. England feiert seinen Dichterfürsten im großen Stil. In London und Umgebung gibt es hunderte Hommagen an den Barden, dessen Sprache die Welt neu erschuf.
Wainwright begann bereits vor sieben Jahren mit der Vertonung Shakespeares
Nicht erst seit gestern gehört Rufus Wainwright zu den modernen Shakespeare-Aposteln. Seit 2009 setzt sich der kanadische Singer-Songwriter und Komponist mit seinen Sonetten auseinander. Es begann im Vorfeld seiner ersten Oper “Prima Donna”. “Da ich noch nie Musik für die Bühne geschrieben hatte, wollte ich mich zuerst mit einigen kleinen Stücken herantasten”, sagte er. Diese Gelegenheit bot sich, als ihn der Produzent Robert Wilson fragte, ob er die Musik zu einer Adaption von Shakespeares Sonetten für das Berliner Ensemble schreiben wollte. “Robert Wilson, Shakespeare, das Berliner Ensemble – das klang für mich nach einer guten Kombination.” 2010 orchestrierte Wainwright fünf dieser Sonette für das San Francisco Symphony Orchestra. In anderen Fassungen erschienen drei weitere Sonnette in Wainwrights Album “Songs for Lulu”. Aus einer Spielerei wurde ein riesiges Projekt. “Lässt man sich einmal auf Shakespeares Sonette ein, dann gibt es kein Zurück mehr”, kommentierte Wainwright. “Man wird eingesogen, taucht ein, geht unter und steht als besserer Mensch wieder auf.” Wainwright nannte das Projekt eine “Hochzeit im Himmel”.
Vom “Dreigroschenoper-Sound” zum orchestralen Oeuvre
Für “Take All My Loves” hat er die Vertonung der epochalen Liebesgedichte nochmals überarbeitet. Wo die Fassungen fürs Berliner Ensemble noch einen “angeschrägten Dreigroschenoper-Sound” hatten (rezensierte das Magazin nachtkritik.de), wo der damals in Berlin lebende Kosmopolit dort unbekümmert mittelalterlichen Minnegesang, Pop, Cabaret, Rock und Klassik aneinanderreihte, sind die neuen Versionen musikalisch ausgefeilt, großzügig arrangiert, verbinden den Rausch mit dem Detail, die Erhabenheit mit Spontaneität, Witz und Biss. Immer schon hat der Pop-Rebell den Glamour Hollywoods mit Indie-Rock und opernhaftem Drama kombiniert. Auch hier zeigt Wainwright Mut zum Kontrast, streut quirlige post-punkige Gitarren ein, untermalt mit elektronischen Klangtapeten, bezirzt mit Pop-Balladen-Charme, lässt Streicher flirren, gibt den Sprechern filmisch wirkende Hallräume, überrascht den Hörer von Moment zu Moment aufs Neue auf seiner Reise in die schwindelnden Höhen und irren Abgründe des shakespearischen Universums. Genau wie dieser in seinem Werk einfach alles abdeckte, lässt Wainwright hier seiner Vision den größten Raum, schöpft aus dem Vollen.
Wainwrights Telefonbuch gibt viele große Namen her
Sorgfältig wählte der 42-Jährige die Sänger und Sprecher für “Take All My Loves” aus, und die diversen Mitstreiter spiegeln vortrefflich seine eigene künstlerische Bandbreite. Mit von der Partie sind die österreichische Koloratursopranistin
Anna Prohaska und die Star-Schauspielerin
Helena Bonham Carter (“
Die Rede des Königs”). Die britische Rocksängerin
Florence Welch schwebt auf den sanften Westcoast-Folkpop-Klängen von “
When in Disgrace” davon. Der Berliner Grimme-Preisträger
Jürgen Holtz (“
Du bist nicht allein”, “
Good Bye Lenin”) und der Schauspieler
Christopher Nell (2011 umjubelte ihn die Theaterszene für seinen Romeo) sind auf einer deutschsprachigen Tango-Version (“
All dessen müd”) des
Sonnets 66 zu hören. Begleitet werden sie vom
BBC Symphony Orchestra unter der Leitung von
Jayce Ogren, das im vergangenen Jahr Wainwrights “
Prima Donna” auf CD einspielte. Mit dem Produzenten
Marius de Vries, der entscheidend an “Take All My Loves” mitwirkte, schließt sich ein weiterer Kreis: De Vries produzierte Wainwrights frühe Alben “
Want One” und “
Want Two” und mischte 2007 sein bisher erfolgreichstes: “
Release The Stars”.
Wainwright hatte noch nie ein Problem damit, im Kontext der ganz Großen zu stehen. So wie er sich ohne Anbiederung vor
Verdi,
Strauss und
Wagner verneigt hat (mit “Release The Stars” und “Prima Donna”), liefert er hier nun William Shakespeare ein tadelloses Tribute-Album, das sich aus der Masse der Würdigungen heraushebt und dem zeitlosen Dichter über den runden Todestag hinaus neue Fans bescheren wird.