John Eliot Gardiner zählt zu den umtriebigen Gestalten der historisch kritischen Aufführungspraxis und zu den produktivsten Dirigenten und Ensembleleitern seiner Generation. Sein Studium in Cambridge schloss er mit Diplomen in Geschichte und Arabistik ab, ein Stipendium ermöglichte ihm zwei Jahre intensiven Unterricht bei der großen Nadia Boulanger in Paris. Im Jahr 1964 gründete er den Monteverdi Choir als Interpretationswerkzeug für gemeinsame Studien vor allem Alter Musik bis hin zu Bach und Händel. Das Vokalensemble avancierte zusammen mit dem bald darauf ergänzten Monteverdi Orchestra zu einer Instanz seiner Sparte und wurde zu Gardiners bevorzugtem Instrument. Es hatte auch Teil an den aufwändigen Aufnahmen der großen kirchlichen Gesangswerke Johann Sebastian Bachs, die der Dirigent gemeinsam mit den English Baroque Solists seit rund einem Vierteljahrhundert vorantrieb, und die nun zusammen mit 35 Kantaten und kürzeren Stücken in einer einmaligen, preisgünstigen 22 CD-Box erscheinen.
Nach dem Tod des Thomaskantors Johann Kuhnau am 5.Juni 1722 hatte die Stadt Leipzig das renommierte Amt zur Disposition gestellt. Bald häuften sich die Bewerbungen angesehener Komponisten wie Christoph Graupner und Georg Philipp Telemann. Doch die Berühmtheiten sagten im letzten Moment wegen andere Verpflichtungen ab und so fiel die Wahl des Gremiums auf Johann Sebastian Bach. Als der neue Kantor im Mai 1723 mit vier Wägen und zwei Kutschen in der Stadt eintraf, um sein “neu renovirtes” Dienstquartier in der Thomasschule zu beziehen, konnte zwar keiner der Räte ahnen, dass sie sich einen Künstler mit viel Eigensinn eingeladen hatten. Auf der anderen Seite war der neue Kantor von gewaltigem Schaffenskraft getrieben, der ihn das umfangreiche Arbeitspensum vergleichsweise mühelos meistern ließ.
Die Lehrverpflichtung hatte Bach zunächst an seinen Kollegen Carl Friedrich Petzold abgehen können. Für die wöchentlichen Aufführungen teilte er den Thomanerchor in vier Kantoreien, deren bestes Ensemble er in der Regel persönlich leitete. Damit wurden am Sonntag die Hauptmessen bestritten, außerdem die zusätzlichen Oratorien und liturgischen Festlichkeiten. Darüber hinaus sangen die Kantoreien, unterstützt von den Instrumentalisten des bürgerlich-studentischen Collegium Musicum (dessen Leitung Bach um 1729 auf sich übertragen konnte), auch bei weltlichen Anlässen, etwa im Zimmermanschen Coffeehaus. So entstand über die zweite Lebensphase bis zu seinem Tod 1750 ein enorm umfassendes und vielschichtiges Werk. Mit viel Energie widmete er sich den zahlreichen Kantaten, die er Woche für Woche zu komponieren hatte. Dazu kamen Motetten für verschiedene Anlässe (Hochzeiten, Feste, Beerdigungen), Lehr- und Auftragswerke zu sehr unterschiedlichen Funktionen und eigene Studien, die zunächst nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren. Und nicht zu vergessen die Großwerke wie die Oratorien, für die er den glaubensstrengen Leipzigern versichern musste. “in den Kirchen die Music dergestalt einzurichten, dass sie nicht opernhafttig herauskomme”.
Wie bei allem, was Bach komponierte, ist auch die Qualität seiner Vokalwerke von einer steten Perfektion, über die sich bis heute die Musikwelt nur wundern kann. John Eliot Gardiners Beschäftigung mit diesem umfangreichen Werkkorpus führte während der vergangenen Jahrzehnte maßgeblich dazu, dass diese Meisterschaft auch aus der Perspektive der historischen Aufführungspraxis beleuchtet und gewürdigt wurde. Seine seit Mitte der Achtziger mit dem Monteverdi Choir und den English Baroque Solists entstandenen, vielfach preisgekrönten Aufnahmen der “Passionen”, des “Weihnachtsoratoriums”, der “h-Moll Messe” und zahlreicher weitere Vokalwerke wurden nun erstmals in einer Box auf 22 CDs zusammengefasst, um damit nicht nur den Überblick über eine der zentralen Facetten eines der wichtigsten Dirigenten unserer Tage zu präsentieren, sondern darüber hinaus auch allen Freunden grandioser Vokalmusik einen passenden Einstieg in die bewegende Welt der geistlichen Kompositionen von Johann Sebastian Bach zu bieten.