Es war eine Zeit des Umbruchs und Neville Marriner der Mann der Stunde. Bereits als Dreizehnjähriger hatte er Geige am Royal College in London und anschließend am Pariser Konservatorium studiert, war mit Mitte zwanzig als Professor an das Royal College berufen worden und so mitten in der Diskussion um die sich verändernde Vorstellung von Interpretation, die mehr und mehr historische Aufführungskomponenten in die Gestaltung einfließen lassen wollte.
Erprobung der Demokratie
Zunächst ohne die Absicht, ein festes Ensemble zu gründen oder gar Konzerte zu geben und Aufnahmen zu machen, versammelt Marriner zwei bis dreimal pro Woche befreundete Musiker in seiner Wohnung um sich. Sie erkunden die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts. In deutlichem Kontrast zum damaligen Berufsalltag der Orchestermusiker steht das gleichberechtigte Miteinander, das sich in dem familiären Rahmen ganz von selbst ergibt. “Wir haben einfach nur zum Vergnügen gespielt”, erinnert sich Marriner, der damals selbst noch Geige im London Symphony Orchestra spielt. 1959 geht aus dieser Gruppe die Academy of St.-Martin-in-the-Fields hervor, benannt nach der Kirche am Londoner Trafalgar Square, wo ihre ersten Konzerte stattfinden.
“Es war einfach schrecklich”
Über die Motivation der Musiker gibt Neville Marriner in einem erhellenden Interview mit Alain Steffen vom luxemburgischen Klassikmagazin Pizzicato Auskunft: “Ich erinnere mich noch sehr gut an diese Zeit, wo man Bach, Händel, Corelli unheimlich breit und pathetisch spielte, dazu noch mit einem riesigen Orchester und gelangweilten Musikern. Dazu wurden diese Werke mit einem großen Ernst gespielt, als handele es sich dabei um tief religiöse Musik. Es war einfach schrecklich. Und mit einem kleinen Ensemble wie der Academy entdeckten wir plötzlich, wie wunderbar diese Musik doch sein kann. Wir waren damals eigentlich das erste und einzige Orchester, das Barockmusik so spielte, wie man sie vorher noch nie gehört hatte.”
Natürlicher und frischer Klang
Das Klangideal der Academy of St.-Martin-in-the-Fields zielt auf größtmögliche Natürlichkeit, Unmittelbarkeit und Transparenz. Die Musiker praktizieren einen Aufführungsstil, in dem sich neueste Erkenntnisse über historische Interpretationen und das Spiel auf modernen Instrumente verbinden. Neville Marriner leitet das Kammerorchster zunächst noch mit seinem Geigenbogen vom Platz des Konzertmeisters aus. Doch die wachsende Popularität und die Erweiterung des Repertoires um größer besetzte Werke macht die Leitung eines Dirigenten erforderlich. “Also musste ich aufstehen und den Taktstock in die Hand nehmen”, sagt Marriner.
Erfolgsjahre mit dem Label Argo
Im März 1961 entsteht die erste Aufnahme für das heute zur Decca gehörende Label L’Oiseau Lyre mit Couperins “Les Nations”, deren Verkaufszahlen und positive Aufnahme bei den Kritikern alle Beteiligten in Euphorie versetzen. Ab 1964 nehmen die Academy of St. Martin-in-the-Fields und das Label Argo (ebenfalls im Besitz der Decca) ihre ungemein fruchtbare Zusammenarbeit auf. Bis Ende der 1970er Jahre entwickelt sich das britische Kammerorchester zum verkaufsstärksten der Aufnahmegeschichte. Sein Dirigent Neville Marriner wird 1985 von der Queen zum Ritter geschlagen.
Sonderausgabe zum 90. Geburtstag von Neville Marriner
Um den großen Dirigenten, der am 15. April seinen 90. Geburtstag feiert, gebührend zu würdigen, veröffentlicht Decca nun in einer limitierten Sonderausgabe die Quintessenz der Aufnahmen, die Neville Marriner und die Academy of St. Martin-in-the-Fields in knapp zwei Jahrzehnten für Argo gemacht haben. Der Blick auf die Rückseite der Box verschlägt einem geradezu den Atem. Mit welch außergewöhnlicher Entdeckerfreude haben diese Musiker die Jahrhunderte und Epochen, von Barock bis Moderne, durchmessen!
Von Bach bis Barber
“Neville Marriner & Academy of St Martin in the Fields – The Argo Years” (28 CDs) vermittelt ein farbenprächtiges Bild der instrumentalen Barockmusik und Frühklassik mit einer Auswahl von Werken Händels, Bachs und Telemanns sowie kaum noch bekannter Meister wie Vejvanovsky, Locatelli, Geminiani, Boyce und Avison. Die Box beinhaltet eine wunderbare Sammlung romantischer Musik, darunter seltener Gehörtes (z.B. Dvoraks Streicherserenade op.22, Bizets Symphonie C-dur und Rossinis Streichersonaten) und populäre Werke, wie Mendelssohns Symphonien Nr. 3 & 4 und Wagners “Siegfried-Idyll”.
Keineswegs haben sich Neville Marriner und die Academy of St. Martin-in-the-Fields nur für die Pflege der Musik vergangener Epochen eingesetzt. Sie nahmen für Argo Werke von Schlüsselfiguren der Moderne (Debussy, Schönberg und Strawinsky) auf. Und sie richteten besonderes Augenmerk auf britische und amerikanische Komponisten wie Ives, Tippett, Copland, Cowell und Barber. “Neville Marriner & Academy of St Martin in the Fields – The Argo Years” beinhaltet eine Fülle wunderbarer Aufnahmen der Musik des 20. Jahrhunderts.