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Strukturspiele

31.10.2003
Musik, in der auf den ersten Blick kaum etwas passiert, kann für ungeübte Hörer nervtötend sein. Es wundert daher wenig, dass Steve Reich ähnlich wie seine Kollegen Terry Riley und Philip Glass den Gegenwind der konservativen Presse zu spüren bekamen, als sie sich mit minimalistischen Experimenten beschäftigten. Mehr als drei Jahrzehnte später jedoch zählt vieles, was sie als akustische und kompositorische Versuchsaufbauten präsentierten, zum grundlegenden Klangmaterial der zeitgenössischen Musik. Wie zum Beispiel Reichs Phasenstudie “Drumming”.
Die Entdeckung kam durch Zufall, als Reich in seinem Studio mit Tonmaterialien experimentierte: "Ich hatte zwei Tonbandgeräte mit je einer Bandschleife, auf denen nur die Worte des “Negerpredigers” [Brother Walter] ‘It’s gonna rain’ aufgezeichnet waren. Beide Bandschleifen hatten exakt die gleiche Länge, und ich ließ beide Maschinen mit der gleichen Geschwindigkeit laufen. Nach einiger Zeit ergab sich, dass die Maschinen nicht exakt liefen, die Information geriet langsam außer Phase. Jeder Toningenieur wird bestätigen, dass es zwei Bandmaschinen, die völlig übereinstimmend laufen, nicht gibt. Ich erkannte jedoch in diesem technischen Defekt eine große Möglichkeit, meine ‘Patterns’ kontinuierlich zu verändern". Reich hatte etwas gefunden, das ihn faszinierte. In den folgenden Jahren nannte er es “Phasenverschiebung” und versuchte, die Idee auf verschiedene Instrumente zu übertragen. Es entstanden Kompositionen wie “Piano Phase für zwei Klaviere” und “Violin Phase für 4 Geigen” (beide 1967), bald darauf “Pulse Machine” und “For Log Drum” (beide 1969) und schließlich als Höhepunkt dieses Werkabschnitts die ausladende Komposition “Drumming”( 1970/71).
 
Reich, der um Missverständnisse zu vermeiden seine Werke gerne kommentierte, erklärte dazu: “'Drumming' präsentiert – im Zusammenhang mit meiner eigenen Musik – die letzte Verfeinerung der Phasentechnik: zwei oder drei identische Instrumente, die dasselbe Melodiemodell ständig wiederholen, verschieben sich allmählich asynchron gegeneinander. Das Werk stellt außerdem neue Techniken vor: 1) graduelle Veränderungen der Klangfarbe bei gleichbleibender Tonhöhe und gleichbleibendem Rhythmus, 2) die Verwendung der menschlichen Stimme in einem Instrumentalensemble, die den Instrumentalklang präzise imitiert, 3) den Prozess graduellen Austausches von Schlägen durch Pausen (oder von Pausen durch Schläge) innerhalb eines ständig sich wiederholenden rhythmischen Zyklus'. […] ‘Drumming’ markiert das Ende meiner Arbeit mit Phasenverschiebungsprozessen”.
 
Und es ist zugleich einer der Gipfelpunkte konsequent minimalistischer Musik der frühen Siebziger. Reich, der nicht nur gerne über seine Entdeckungen redete, sondern sie auch selbst mit eigenen Ensembles umsetzte, bekam im Januar 1974 die Möglichkeit, dieses Experiment unter professionellen Bedingungen für die Nachwelt festzuhalten. So entstanden im Hamburg-Rahlstedter Musikstudio I die Aufnahmen von “Drumming”, darüber hinaus von “Six Pianos” und “Musik for Mallet Instruments, Voices and Organ”, die zu Wegmarken zeitgenössischer Klanggestaltung wurden und weit über den klassischen Rahmen hinaus bis in die Gattungen des avantgardistischen Jazz, der experimentellen Popmusik und der DJ-Culture hinein wahrgenommen wurden. In der neuen Staffel der Serie 20/21 ist Reichs Rhythmusepos nun in der wegweisenden Einspielung von 1974 wieder erhältlich und ermöglicht den Zugriff auf ein zeittypisches Grundlagenwerk mit großer Wirkung.

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