Wenn wir aus der heutigen Perspektive auf das Barockzeitalter zurückblicken, ist die Versuchung groß, es uns als fremdartig, vormodern, weltanschaulich geschlossen und ästhetisch überladen vorzustellen. Doch so wahr die ein oder andere Assoziation auch sein mag, der Eindruck, es handle sich um eine ferne Zeit, mit der uns nichts verbindet, ist grundfalsch. Es reicht aus, sich die Lebensdaten und persönlichen Kontakte von Johann Sebastian Bach in Erinnerung zu rufen, um die seltsame Verkennung des Barock, die für unsere Gegenwart typisch ist, aufzudecken. Bach wurde im Jahre 1685 geboren. Spätestens um 1700 setzt bereits das Zeitalter der Aufklärung ein. Friedrich der Große, für den Bach das “Musikalische Opfer” schreibt, steht in persönlichem Kontakt mit Voltaire und sympathisiert – freilich innerhalb bestimmter Grenzen – mit den Idealen der Aufklärungsphilosophie.
Für einen Mann wie Thomas Zehetmair dürften dies keine abstrakten Tatsachen sein. Der österreichische Ausnahmegeiger hat sich dazu entschlossen, Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo auf historischen Instrumenten einzuspielen. “Für die Neuaufnahme”, so Thomas Zehetmair im Booklet seines gerade erschienenen Albums “Sei Solo”, “wollte ich alle Hilfsmittel nutzen, um Bach und dem Klang und der Spielweise seiner Zeit nahezukommen.”
Historische Instrumente
Doch warum, wenn nicht aus nostalgischen Gründen, möchte ein zeitgenössischer Geiger, der sich neben klassischem und romantischem Repertoire mit bedeutenden Interpretationen moderner Komponisten wie Karl Amadeus Hartmann, Béla Bartók oder Heinz Holliger einen Namen gemacht hat, der Zeit des Barock nahe sein? Warum, so die gängige Kritik an der historischen Aufführungspraxis, auf alte Instrumente zurückgreifen, wenn es neue, ausgereiftere gibt? Erstens, weil die alten Instrumente nicht per se schlechter, sondern in erster Linie anders sind, anders klingen. Zweitens, weil das Barockzeitalter keine niedrigstehende Epoche ist, von der sich die Gegenwart in allen Belangen abhebt. Auf dieser Basis könnte der Rückgriff auf alte Instrumente und die Annäherung an Bachs Zeit einige Plausibilität für sich beanspruchen.
Thomas Zehetmair scheint indes selbst nicht zu allen Zeiten seiner facettenreichen Laufbahn an die zwingende Notwendigkeit einer historischen Interpretation geglaubt zu haben. Jedenfalls nahm er Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo im Jahre 1983 auf einer modernen Geige auf. Jetzt veröffentlicht er beim Münchener Label ECM New Series erstmals eine Interpretation auf historischen Instrumenten.
Spirituelle Tiefen
Die Partiten interpretiert er auf einer um 1685 von einem unbekannten Südtiroler Meister gefertigten Barockgeige. Für die Sonaten benutzt er eine um 1750 gebaute Joannes Udalricus Eberle. Auf Kinnhalter und Schulterstütze verzichtet er. Er ist davon überzeugt, dass ihm die größere Nähe zum Instrument ein breiteres Spektrum von Klangfarben ermöglicht. Die musikalischen Ergebnisse seines Vorhabens, die man jetzt in seinem neuen Album “Sei Solo” erleben kann, sprechen für sich. Der Reichtum an Klangnuancen, den Thomas Zehetmair mit den alten Instrumenten hervorzubringen vermag, ist enorm, die tänzerische Dynamik bei gleichzeitiger sinnlicher Fülle erstaunlich. Doch was die Aufnahme vor allem auszeichnet, ist ihre spirituelle Tiefe, die in der visionären Chaconne aus der zweiten Partita maximale Grade erreicht.
Ohne dem schier endlos verzweigten, ruhelosen Monolog der Chaconne seine frappierende Modernität zu nehmen, erzeugt Thomas Zehetmair eine metaphysische Stimmung, die das Werk wie von Ferne anklingend erscheinen lässt. Jene Ferne ist aber nicht die Ferne des Barockzeitalters, sondern eine transzendente Ferne, die durch die ebenso klare wie geheimnisträchtige Akustik der Probsteikirche St. Gerold zusätzliche Verstärkung erfährt.