Till Fellner hat einmal gesagt, “exzentrische Interpretationen” widerstrebten ihm genauso wie “neutrale, langweilig-distanzierte”. Diese Bemerkung, die er gegenüber dem Wiener STANDARD fallen ließ, sagt viel über das Musikverständnis und die Künstlerpersönlichkeit des österreichischen Pianisten aus.
Beiläufige Radikalität: Till Fellner
So diskret und unauffällig, wie es daherkommt, überliest man das Statement beinahe. Es gleicht auf bezeichnende Weise dem höflichen Auftritt des österreichischen Pianisten, der sich um keinen Preis durch musikalische Radikalität und übertriebene Gesten hervortun möchte. Dass gerade hierzu Eigensinn und charakterliche Stärke gehören, dürfte in einem Kulturbetrieb, der zusehends auf schrille Töne setzt, klar sein. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille.
Die andere lenkt den Blick direkt ins Zentrum von Fellners Klavierkunst. Denn so sehr der österreichische Pianist sich rein äußerlich von exzentrischen Versuchungen fernhält, so auffällig radikal, neuartig und persönlich riskiert mutet sein Klavierspiel an. Es ist, als ob er dadurch, dass er Originalität zu vermeiden sucht, sie in einem besonderen Maße erringt. Jedenfalls beweist sein neues, soeben beim Münchener Label ECM New Series erschienenes Live-Album, dass er ein Pianist ungeahnter musikalischer Intensitäten ist.
Wanderjahre: Liszts erstes “Année de pèlerinage”
Till Fellner spielt Liszts erstes “Année de pèlerinage” mit einer solchen Präsenz und Entdeckerfreude, dass man bisweilen vollkommen in das musikalische Geschehen hineingezogen wird. Ohne von der Fülle der Eindrücke, der virtuosen Kraft und der poetischen Gefühlsdichte dieses Werkes überrollt zu werden, darf man sich vertrauensvoll einer empfindsamen Entdeckungsreise anschließen, die mit vielen überraschenden Impressionen aufwartet.
Franz Liszt hat dieses erste seiner drei “Années de pèlerinage” der Schweiz gewidmet. Das Werk sucht in Gestalt von neun Charakterstücken die Empfindungen und den Entwicklungsgang des Reisenden musikalisch einzufangen. Till Fellner führt vor, dass Liszt mit seiner Komposition regelrechte Typisierungen menschlicher Gefühlslagen in musikalischer Gestalt gelungen sind. So in “Chapelle de Guillaume Tell”, dessen heroische Stimmung der Pianist mit seinem ebenso souveränen wie entschieden deklamierenden Spiel kongenial einfängt.
Romantische Formen: Liszts Stimmungen und Beethovens Furor
Dabei dürfte es kaum eine Rolle spielen, ob man den Mythos des Schweizer Nationalhelden kennt und die Tellskapelle am Vierwaldstättersee bereits besucht hat. Entscheidend ist die emotionale Essenz: ein Moment der politischen Selbstermächtigung, der kraftvollen Gründung, die Fellner in seiner Interpretation spürbar zu machen versteht. Eine ähnliche Wirkung erzielt er mit den anderen Stücken der Pilgerschaft. Obgleich man die Glocken in “Cloches de Genève” durchaus läuten und die Quelle in “Au bord d’une source” immer sprudeln hört, verfestigt sich der Eindruck, dass Fellner stets bei der seelischen Resonanz des musikalischen Betrachters bleibt.
Fellners Interpretation von Liszts erstem “Année de pèlerinage” stammt aus dem Jahre 2002 und ist im Großen Saal des Wiener Musikverein aufgezeichnet worden. Der zweite Live-Mitschnitt des Albums verdankt sich einem Recital, das der österreichische Pianist im Jahre 2010 in den USA, am Mahaney Center for the Arts in Middlebury/Vermont, gegeben hat. Hier ist er in einer hochgespannten Interpretation von Beethovens Klaviersonate Nr. 32 in c-Moll (op. 111) zu erleben. Die Aufnahme bildet ein reizvolles Kontrastprogramm zu Liszts eher lyrisch dominiertem Stimmungspanorama.