Das unverwechselbare Profil von ECM New Series erklärt sich nicht aus den großen Namen des internationalen Star-Sets, sondern aus kompromisslos großer Kunst. Was natürlich nicht heißen kann, dass hoch angesehene Künstlerinnen und Künstler unter den Interpreten fehlten. Aber Sänger und Pianist der jüngsten Silvestrov-Aufnahme sind tatsächlich im Westen unbekannt – und bieten doch die “Stillen Lieder” in höchster Vollendung dar. Manfred Eicher, Silvestrov seit langem verbunden, ist das Wunder dieser Entdeckung zu danken.
Denn der Bariton Sergej Jakowenko war in seiner Heimat längst berühmt, als er mit dem noch jungen Ilja Scheps den 1974/77 entstandenen vierteiligen Vokalzyklus “nach Versen klassischer Dichter” 1985 in Moskau uraufführte; die Aufnahme entstand ein Jahr später und ruhte, bis sie jetzt zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Die “Vier Lieder nach Ossip Mandelstam” von 1982 begleitet Valentin Silvestrov selbst.
Der 1937 in der Ukraine geborene Komponist hat hier einen verhalten harmonischen Ton getroffen, der kaum mehr an seine frühe Zugehörigkeit zur “Kiew-Avantgarde” denken lässt. Doch er sieht keinen Stilbruch in seinem Werk. Vielmehr einen Übergang, in dem das Avantgardeelement sich zurückzieht und die Musik wie eine Prise Salz durchdringt – “subversiv, im Bereich des Unsichtbaren und Unhörbaren”. Das macht die Stille, die in den Dichterworten lebt, vernehmbar als Kunde von den Wandlungen in der Natur, in den Wellenschlägen menschlicher Existenz und Empfindungen. Im Leisen und Langsamen findet das Ausdruck, und Silvestrov sublimiert es in tonaler Weite und rhythmischer Ruhe, die sich vom Pianissimo bis zum Forte ausbreiten kann. Die allerersten dunklen Dur-Akkorde des Klaviers lassen ahnen, was sich dann im Gesang entfaltet, in den behutsamen Figuren der Begleitung, die viel mehr ist als das – ein selbständiges, der Singstimme ebenbürtiges Aus- und Nachhören der emotionalen Farbwerte in der Dichtung. Vertont sind so bedeutende Autoren wie Puschkin, Lermontow, Jessenin, Baratynskij, Shelley, Keats, Goethe, auch schon Mandelstam. Dessen vier Gedichte hat Silvestrov, ihrem politischen Inhalt gemäß, zum Teil härter gefasst, ohne die eindringliche Langsamkeit aufzugeben. Den brisanten Text “Für den pochenden Mut einer kommenden Zeit” hatte man 1934 während einer Hausdurchsuchung bei Mandelstam gefunden. Der Dichter wurde verhaftet und starb vier Jahre später im Lager Wladiwostok. Silvestrov hat die Vier Lieder dem Sänger Jakowenko gewidmet.
Metaphysische Tiefe und wehmütige Kraft strahlt diese Musik aus. Wer sie hört, wird selbst still, ja ergriffen, so nah gehen die Stimme des zarten, runden Baritons und die Sensibilität seiner Klavierpartner. Der Klang des Russischen ist Teil des Zaubers, den die Lieder hervorrufen. Im Booklet stehen neben dem Originaltext kongeniale Über-setzungen.