Vladimir Horowitz, in heutiger Transkription aus dem Ukrainischen Volodymyr Samiylovich Horovyts, wurde am 1. Oktober 1903 geboren. Als Geburtsort gab er selbst immer die ukrainische Hauptstadt Kiew an, sein Biograph Glenn Plaskin, gestützt auf Aussagen von Horowitz' Frau Wanda und rabbinische Dokumente, favorisiert das etwa 150 Kilometer entfernte Berdychiv. Die ersten Klavierlektionen erhielt der kleine Volodja wie auch seine drei Geschwister von seiner Mutter Sophie, selbst eine begabte Pianistin. Bereits mit neun Jahren wurde er am Konservatorium in Kiew aufgenommen, wo ihn Vladimir Puchalsky, Sergei Tarnowsky und Felix Blumenfeld unterrichteten. 1920 spielte er dort als öffentliche Abschlussprüfung unter anderem erstmals Sergei Rachmaninovs 3. Klavierkonzert, das zu einem seiner Paradestücke werden sollte. Im selben Jahr fand auch sein erstes Solo-Recital statt. Zu dieser Zeit sah sich Horowitz vor allem als Komponist. Die politischen Umstände in den frühen Jahren der Sowjetunion und daraus resultierende wirtschaftliche Not seiner Familie zwangen ihn aber schnell, davon abzusehen und sich ausschließlich auf seine Pianistenlaufbahn zu konzentrieren. In den Jahren 1921 – 1925 gab Horowitz solistisch oder als Duo-Partner seines Freundes, des Geigers Nathan Milstein, eine schier unermessliche Anzahl von Konzerten in der Sowjetunion, nicht nur in den Metropolen wie Moskau, Leningrad (allein 23 Auftritte mit elf verschiedenen Programmen in der Saison 1922/23) und Kiew, sondern auch in kleinen Orten unter teilweise abenteuerlichen Umständen. Milstein erzählt davon in seiner Autobiographie ebenso wie von den bereits in dieser Zeit entstandenen und legendär gewordenen Carmen-Variationen und Transkriptionen.
1925 verließ Vladimir Horowitz die Sowjetunion. Sein Vater war der einzige seiner Familie, den er Jahre später, 1934, noch einmal wiedersehen sollte. Sein erstes Konzert im Ausland fand am 2. Januar 1926 in Berlin statt. In den folgenden beiden Jahren feierte er bereits Triumphe in ganz Europa. Am 12. Januar 1928 debütierte er in den USA: Mit dem New York Philharmonic Orchestra unter Sir Thomas Beecham spielte er das 1. Klavierkonzert von Tschaikowsky und dies mit derart sensationellem Erfolg, dass ihm von nun an alle Türen der musikalischen Welt offenstanden. 1932 musizierte er erstmals mit Arturo Toscanini (Beethovens 5. Klavierkonzert), dessen Tochter Wanda er im darauffolgenden Jahr heiratete. 1934 wurde die gemeinsame Tochter Sonia geboren. Zwei Jahre später wurde erstmals Horowitz' Depression spürbar, die ihn lebenslang begleiten sollte und mehrmals zu langen Podiumsabsenzen zwang (1936–38, 1953–65, 1969–74 und noch im hohen Alter 1983–85). Die Liebe zu seinem Instrument und die abgöttische Verehrung des Publikums konnten ihn aber immer wieder bewegen, erneut öffentlich aufzutreten. Sein Carnegie-Hall-Comeback nach zwölf Jahren am 9. Mai 1965 ging als eines der triumphalsten Konzerte des 20. Jahrhunderts in die Geschichte ein. Dennoch reduzierte Horowitz seine Auftritte mit zunehmendem Alter immer mehr, die Überanstrengung der jungen Jahre und die immense Erwartungshaltung des Publikums und seiner selbst zollten ihren Tribut.
Für Vladimir Horowitz, der sich 1939 nach vier Jahren in Paris in den USA niedergelassen hatte und seit 1944 US-Staatsbürger war, wurde New York zum Lebens- und künstlerischen Mittelpunkt. Dort gab er die Mehrzahl seiner Konzerte, dort entstanden die meisten seiner Schallplattenaufnahmen. Zwischen 1951 und 1982 trat er nur in den USA und Kanada auf. Mit seinem begeistert aufgenommenen Konzert am 22. Mai 1982 in London begann Horowitz' erstaunliche Spätkarriere. Sie führte ihn 1983 erstmals nach Japan, am 20. April 1986 nach 61 Jahren (!) wieder in die Sowjetunion (Moskau/Leningrad) und kurz darauf auch wieder nach Deutschland (Hamburg/Berlin/Frankfurt), wo seine einmalige internationale Laufbahn begonnen hatte. Am 15. Dezember desselben Jahres trat er letztmals in den USA auf, das Hamburger Konzert am 21. Juni 1987 bedeutete seinen Abschied vom Konzertpodium. Am 5. November 1989 starb Vladimir Horowitz in New York an einer Herzattacke. Neben seinem Schwiegervater ist er im Familiengrab der Toscaninis auf dem Mailänder Cimitero monumentale begraben.
“Klavierspiel besteht aus Vernunft, Herz und technischen Mitteln. Alles sollte gleichermaßen entwickelt sein. Ohne Vernunft sind Sie ein Fiasko, ohne Technik ein Amateur, ohne Herz eine Maschine.” Die singuläre Bedeutung Horowitz' beruht darin, dass er diesen Anspruch an sich selbst in allen Phasen seiner Laufbahn verwirklichen konnte. Lag der Schwerpunkt seines Repertoires naturgemäß in der Hoch- und Spätromantik, bei Chopin, Schumann, Liszt, Rachmaninov und Scriabin, so war er doch zeitlebens für fast jede pianistische Stilrichtung offen: Seine ehernen Bach-Interpretationen, sein mit zunehmendem Alter immer feiner ziselierter Scarlatti sind aus dem Gesamtbild Vladimir Horowitz' ebenso wenig wegzudenken wie seine ebenmäßig klassischen Deutungen von Mozart- und Beethoven-Sonaten. Doch auch Werke von Komponisten wie Sergei Prokofiev, dessen “Kriegssonaten” Nr. 6, 7 und 8 er als erster in den USA vorstellte, oder Samuel Barber, dessen Klaviersonate ihm ihre Uraufführung verdankt, zählten zu seinem Repertoire. In den frühen Jahren seiner internationalen Karriere machte er vor allem aufgrund seiner einzigartigen Technik Furore, später war es dann immer mehr die Farbigkeit seiner Interpretationen, sein Feingefühl für die Zartheit kleiner Formen, die das Publikum und auch die Kritiker, die ihm nicht immer wohl gesonnen gewesen waren, faszinierte.
Vladimir Horowitz spielte eine Unzahl von Schallplatten ein, das Mikrophon begleitete seine “Jahrhundert-Laufbahn” von frühen, noch akustischen Aufnahmen bis ins CD-Zeitalter. Darunter befindet sich so Herausragendes wie seine erste Einspielung von Liszts h-moll-Sonate (1932), das aberwitzige Tschaikowsky-Konzert unter Toscanini (1941), der Mitschnitt des New Yorker Comebacks von 1965 oder das 3. Rachmaninov-Konzert unter Eugene Ormandy in der Carnegie Hall 1978. Eine große Überraschung war es schließlich, als Horowitz mit 82 Jahren einen Exklusivvertrag mit der Deutschen Grammophon unterzeichnete. Für das Gelblabel entstanden in den folgenden Jahren solche Kostbarkeiten wie seine einzige Aufnahme eines Mozart-Konzerts (KV 488 unter Carlo Maria Giulini), die zauberhafte Poesie Robert Schumanns (Kinderszenen, Kreisleriana), vor allem aber der sensationelle Mitschnitt des Moskauer Konzerts von 1986 (Horowitz in Moscow), eine der erfolgreichsten Klassik-CDs weltweit. Unter Horowitz' vielen Ehrungen und Auszeichnungen befinden sich nicht weniger als 24 Grammy Awards, der letzte und wichtigste wurde ihm 1990 posthum für sein Lebenswerk verliehen.
Horowitz in eigenen Worten
AMERIKA-DEBÜT MIT SIR THOMAS BEECHAM
»Damals war ich weniger kontrolliert, und mein Spiel hatte manchmal etwas Effektheischendes. Beecham versuchte, Schritt zu halten, was ihm nicht gelang. Wir endeten nicht gemeinsam, aber das Wichtige war, dass ich auf meine Art spielte, nicht auf seine.«
EHE
»Nachdem wir geheiratet hatten, sagte mir Wanda, sie habe entschieden, dass ich der richtige Mann für sie sei. Sie hatte darüber mit ihrem Vater gesprochen, der verständnisvoll zugehört und nur gesagt hatte: Du wirst ein schwieriges Leben haben. Du heiratest einen Künstler. Es ist schwierig, mit einem Künstler verheiratet zu sein. Wanda wusste das. Das Leben ihrer Mutter war ein gutes Beispiel. Sie musste Toscaninis Wutanfälle ertragen, seinen Eigensinn, seine Verpflichtungen, seine Intoleranz, seinen Egoismus und seine Affären.«
DIE KLEINEN DETAILS
»Die Socken so anziehen, dass sie mich nicht drücken. Darauf achten, dass die Schuhe zugebunden sind. Dass der Hosenschlitz zu ist. Sonst ist es furchtbar. Nicht nervös sein. Nicht hasten. Alle Bewegungen ruhig ausführen. Ich denke überhaupt nicht an Musik. Wissen Sie, die Tragödie des Künstlers ist wie in Pagliacci. Man muss zu einer ganz bestimmten Zeit inspiriert sein, spielen wollen und in Form sein. Vielleicht habe ich um vier – gerade um vier – zufällig Magenschmerzen. Ich versuche also, sehr ruhig zu sein. Niemand darf mich stören, und wenn mich einer stört, bekommt er einen Ärger, wie er ihn noch nie erlebt hat.«
AUF DER BÜHNE
»Auf der Bühne ist man der König, und man sollte auch versuchen, wie einer zu erscheinen. Zu Mozarts Zeit war jede Geste von Bedeutung. Spitzen, eine Prise Schnupftabak, ein kleiner Schönheitsfleck . . . Nehmen Sie Chopin! Er war ein Dandy – er wählte nur das Kostbarste! Liszt ebenfalls. Die Zuhörer bezahlen Eintritt, und sie wollen etwas Ästhetisches sehen.«
MOZART & CHOPIN
»Pablo Casals sagte mir einmal, man müsse Mozart wie Chopin spielen, und Chopin wie Mozart. Er hatte recht.«
75 JAHRE
(zum Fotografen Christian Steiner)
»Habe ich mich nicht gut gehalten? Kommen Sie. Fühlen Sie meine Muskeln.«
Auszüge aus Harold C. Schonberg: Horowitz. His Life and Music (New York, 1992)